Niklas Luhmanns Systemtheorie, Soziale Arbeit und andere differenztheoretische Ansätze


WAS IST IHR GEGENSTAND?

Bestimmung der Theorie (-tradition)

In diesen Ausführungen werden angewandte Differenztheorien auf Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit (Beratungskontexte, Behinderungsfragen, Arbeit mit Familien, Erziehung und andere) bezogen, wobei verschiedene Theorien und Theoriefiguren unter der Bezeichnung ,angewandte Differenztheorien’ zusammengefasst werden. Jenseits des Schwerpunktes, der in diesen Ausführungen auf die Luhmann’sche Systemtheorie gesetzt wird, zählen zu den differenztheoretischen Ansätzen Theoreme und Überlegungen aus der Kybernetik (Heinz von Foerster), der Philosophie (Jacques Derrida, Michel Serres), der Mathematik (George Spencer-Brown) oder der Sozialpsychologie (Fritz Heider) – kurz: Ansätze, deren Ausgangspunkt die Beobachtung einer Differenz ist. Die Differenztheorien lassen sich auf viele Gegenstandsbereiche anwenden – etwa auf philosophische, ökonomische, religiöse oder pädagogische Bereiche.

Bezieht man sie auf die Soziale Arbeit, finden sich die folgenden Anwendungsfelder:

  • in allen Attribuierungsfragen in Verbindung mit scheinbar unvermeidlichen Ontologisierungen (beispielsweise Zurechnungen als Arbeitslose/-r, Verwahrlosung, Kapitalisten und Kapitalistinnen, Behinderungen),
  • bezogen auf Beobachtungsrelativitäten (etwa über den Spencer-Brown’schen Formenkalkül, wenn es um das die Sichtbarmachung blinder Flecken bei Erziehungsansinnen geht, oder die Form-/Medium-Unterscheidung in Anlehnung an Fritz Heider bei Erklärungsversuchen rund um die Vielfalt der Professionsverständnisse).
  • in Steuerungsfragen (Wer erzieht wen?; Kann man Gespräche wirklich führen, wie es das Wort der Gesprächsführung suggeriert? und andere).
  • in Fragen der Relevanzmarkierung von Adressaten und Adressatinnen der Sozialen Arbeit (Fragen rund um Inklusion/Exklusion; Welche Effekte zeitigt diese Differenz in Bezug auf Integration/Desintegration?).

Die Differenztheorien lassen sich dem Konstruktivismus zuordnen, der davon ausgeht, dass Weltsachverhalte konstruiert werden, sie somit Effekte eines Beobachters sind. Kurz zusammengefasst, spielen Fragestellungen der Tonlage, ob dies jetzt wirklich eine alkoholkranke Person, ein aggressiver Mensch oder eine Fachperson der Sozialen Arbeit sei oder nicht, keine Rolle, da sie immer der Beobachtung unterliegen und kraft ihrer somit zu Weltsachverhalten werden. Wir sprechen dann von fungierenden Ontologien. Sie sind Ontologien, also Seinsannahmen, die die schnelle Orientierung und Verständigung ermöglichen, jedoch jederzeit an den Beobachter zurückgebunden werden können, womit sich die Härte des Weltsachverhaltes, etwa bei Reflexionsansinnen, auflösen lässt.

«Was ein Ding ist, und was es nicht ist, sind, in der Form, identisch gleich.»

(Spencer-Brown, 1997, ix)

Deshalb richtet sich die präferierte Fragestellung, etwa der Luhmann’schen Systemtheorie, auf das ,Wie‘ („Wie entstehen Phänomene?“), das ,Woran‘ („Woran erkennt man typischerweise Phänomene?“) oder das ,Wozu‘ („Wozu könnte das Phänomenen nützlich sein?“ oder „Welche Funktion lässt sich darauf beziehen?“). Sie fragt nicht danach, was etwas sei (etwa: „Was ist die Profession der Sozialen Arbeit?“). Derart gestellte Fragen sind prinzipiell unbeantwortbar, da sie auf Definitionen beruhen, die beliebig ausfallen können, und werden gerade dadurch beantwortet, indem sie entschieden werden.

«Nur die Fragen, die im Prinzip unentscheidbar sind, können wir entscheiden.»

(Foerster, 1993, 73)


Was versteht Niklas Luhmann unter einem System?

Ein System ist in der Bielefelder Systemtheorie, anders als etwa in systemischen Ansätzen, nicht die Summe seiner Teile. Systeme definieren sich über eine Differenz (S/U). Sie haben also an und für sich weder Inhalt noch Substanz. Sie ergeben sich durch Beobachtungen. Die beobachteten Differenzen (etwa: Recht/Unrecht; Fall/Nicht-Fall; Zahlung /Nicht-Zahlung usw.) lassen Systeme entstehen und wieder verschwinden. Anhand der Differenzen wird dann auf der einen Seite der Barre ( / ) die Selbstreferenz (System – S), auf der anderen die Fremdreferenz (Umwelt – U) markiert, sodass am Ende ein in sich logisch widersprüchliches, damit aber durchaus stabiles Phänomen entsteht, dass als S = S / U dargestellt werden kann. Die Widersprüchlichkeit wird durch das zweimalige Auftauchen des S, also links und rechts des Gleichheitszeichens deutlich, was das Verständnis der Differenz zunächst einmal erschwert.
Nimmt man die Sache jedoch weniger umständlich, wird deutlich, dass kommunikative Systeme mithilfe von Differenzen, die bei Funktionssystemen auch Leitunterscheidung oder Codierung genannt werden, Beobachtungsfilter einsetzen, mit denen sie operieren. Das Rechtssystem beobachtet etwa sich und seine Umwelt lediglich mit der Unterscheidung von Recht/Unrecht, sodass alle Umweltgegebenheiten durch diesen Filter hindurch müssen und sich dabei die Frage stellt, zu welcher

der beiden Seiten ein Sachverhalt zugeordnet werden kann. Die Widersprüchlichkeit, von der vorhin gesprochen wurde, zeigt sich dann darin, dass die in verschiedenen Kulturen und Zeiten entstandenen Rechtssysteme jeweils davon ausgingen und ausgehen, auf der Seite des Rechtes beheimatet sein, und dass die Zuordnungen zu Recht oder Unrecht damit gleichfalls gerecht sind.
Bei der Sozialen Arbeit würde der Operationsmodus gleich ablaufen, nur dass hier eine andere Leitunterscheidung Anwendung findet. Peter Fuchs’ These (Fuchs & Schneider, 1995) lautet, dass Soziale Arbeit mit der Codierung von Fall/Nicht-Fall beschrieben werden kann. Die Konstruktion von Fällen, vor dem Hintergrund von Nicht-Fällen ermöglicht dann die sozialarbeiterische Bearbeitung dieser Konstruktionen, solange diese Zurechnung legitimiert ist. Dies kann, in Verbindung mit dem hierzu passenden Kommunikationsmedium, dem sozialarbeiterischen Anspruch, auf den ich weiter unten kurz eingehe (vgl. auch Maaß, 2007), erklären, warum sich Sozialarbeitende einmal als zuständig und ein andermal als unzuständig ausweisen für Hilfeersuchen von Seiten der Klienten – etwa bei Kostengutsprachen für Frauenhäuser von Seiten der Sozialdienste, die kantonal unterschiedlich konditioniert sind. Sie scheinen an ihre Ansprüche gebunden zu sein, und zwar unabhängig davon, was sie selbst für richtig oder angemessen halten.

Bei der Differenztheorie handelt es sich, wie oben erwähnt, um einen Zusammenzug mehrerer Theoriefiguren, deren grössten Anteil die Bielefelder Systemtheorie im Sinne Luhmanns ausmacht. Sie wird hauptsächlich anhand der Funktionssysteme thematisiert, zu denen auch die Soziale Arbeit gezählt werden kann.

Um die Vergleichbarkeit mit den anderen Theorievorstellungen zu ermöglichen und um die Architektur des Theoriegerüstes im Ansatz in Bezug auf die Soziale Arbeit herzustellen, liegt der Fokus im nächsten Abschnitt auf der Sozialen Arbeit, den Unterscheidungen Inklusion/Exklusion, Integration/Desintegration und den durch sie entstehenden sozialen Adressen.


Wie wird Soziale Arbeit vor dem Hintergrund des Ansatzes von Niklas Luhmann verstanden?

 

Systemtheoretisch beobachtet, bezieht sich die Soziale Arbeit, also sowohl die Sozialarbeit als auch die Sozialpädagogik, auf Folgeprobleme der funktionalen Differenzierung. Die funktionale Differenzierung bezeichnet in aller Kürze die Ausdifferenzierung kommunikativer Sachverhalte auf spezifisch strukturierte Felder, die sich etwa auf religiöse, wirtschaftliche, politische, massenmediale, künstlerische, rechtliche oder wissenschaftliche Themen bezieht. Sie werden Funktionssysteme genannt, die jeweils eigene Profile für Umwelten (Personen, Organisationen) entwickeln. Diese Profile werden soziale Adressen genannt, die wiederum über das Inklusions-/Exklusionsschema für Funktionssysteme, Organisationen und Interaktionen wichtig werden. Das Schema der Inklusion/Exklusion regelt die Bedeutsamkeit oder auch Relevanz der Umwelten, die an der Kommunikation beteiligt sind. Die Bedeutsamkeit, etwa von Personen, kann sich wiederum im Rahmen des Nebeneinanders der Funktionssysteme von einem auf das andere übertragen, was als Spill-over-Effekt bezeichnet wird. Hier werden dann Reputationsgewinne des einen Kontextes, etwa das Verfügen über grosse finanzielle Mittel, für andere Kontexte wirksam gemacht (bessere Wohnlagen, damit bessere Karrieremöglichkeiten, bessere Anwälte, bessere Ausbildungsstätten mit entsprechender Reputation, gesündere Ernährung, bessere Krankenversorgung durch die Finanzierung von Zusatzversicherungen etc.). Diese Verschiebung der Inklusionsmöglichkeiten in Richtung einer höheren und breiteren Relevanz ist jedoch auch in die entgegengesetzte Richtung denk- und nachweisbar. Gemeint ist die zunehmende Relevanzausdünnung von Personen in immer mehr Kontexten, die von den jeweils betroffenen Personen so nicht gewollt ist. An diesem Punkt setzt Soziale Arbeit im Zusammenspiel der Funktionssysteme an, indem für die Klientinnen und Klienten dahingehend gesorgt werden kann, dass die Chance auf Re-Inklusionsprozesse wieder steigt, indem an der sozialen Adresse der Rolle (gekennzeichnet durch schematische Bündel von Verhaltenserwartungen) im Rahmen der Sozialarbeit und an der sozialen Adresse der Person (gekennzeichnet durch individuell zurechenbare Verhaltensweisen) im Rahmen der Sozialpädagogik gearbeitet wird. Bezieht man diese Teilung auf Beispiele, könnte man etwa daran denken, dass Personenveränderung im Rahmen

sozialpädagogischer Tätigkeit etwa dort gegeben ist, wo auf das Unterlassen von Handlungen hingearbeitet wird, etwa bei Suchtverhalten oder Gewalttätigkeiten von Seiten der Klientinnen oder Klienten. Die sozialarbeiterische Arbeit an der Rolle dagegen erstreckt sich auf die jeweils zeitlich und kontextuell befristete Anpassung an die jeweils geltenden Rollenerwartungen, die im Bewerbungsgespräch, auf der Arbeit oder aber im rechtlich geregelten, öffentlichen Leben gelten. Anhand der beschriebenen Funktion, eben dem Arbeiten an der Chance für Re-Inklusionsprozesse, bekommen Sozialarbeit und Sozialpädagogik ihr jeweils eigenes Gepräge. Diese Funktion ist dann auch der Grund, zumindest aus systemtheoretischer Perspektive, die Sozialpädagogik von der Pädagogik zu unterscheiden, da letztgenannte auf die Funktion der generellen Inklusionsfähigkeit bezogen ist. Fokussieren wir nur auf die Ebene der Funktionssysteme im Sinne Luhmanns, dann stellt sie uns eine Reihe von Begrifflichkeiten zur Verfügung, die Luhmann Funktionssystemkriterien genannt hat. Hierunter fallen etwa die binäre Codierung, das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium, die Kontingenzformel, der symbiotische Mechanismus oder auch die Nullmethodologie. Mit diesen Begriffen können Phänomene innerhalb des Themenkomplexes der Sozialen Arbeit, beispielsweise Beratung, Prävention, Behinderung, Familien, Intimsysteme oder Schwererziehbarkeit, in eine Auslegeordnung gebracht werden, die für die Analyse der entsprechend interessierenden Bereiche gewinnbringend ausfallen. Man kann diese Theoreme wie Filter verstehen, mit denen unterschiedliche Wellenlängen der entsprechenden Themenfelder aufgefangen und ausgewertet werden. Gewinnbringend meint in diesem Kontext, dass etwa blinde Flecken der Phänomene sichtbar werden, die die jeweiligen Bedingungen des erfolgreichen Einsatzes der Begriffe im sozialen Gebrauch verdeutlichen. Das Gleiche lässt sich auch für die Sozialarbeit, die Sozialpädagogik und/oder die Soziale Arbeit als Oberbegriffe annehmen, sodass deren charakteristische Merkmale deutlich werden. Dabei gilt immer, dass die Funktionssystemkriterien als Heuristik für Analysemöglichkeiten dienen, die nicht den Anspruch erheben, das analysierte Themenfeld zum Funktionssystem zu ernennen.

Konkretisiert man die oben skizzierten Möglichkeiten für das Feld der Sozialen Arbeit, werden etwa die Codierung Fall/Nicht-Fall, das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium, der sozialarbeiterische Anspruch, die Kontingenzformel der Hilfsbedürftigkeit oder auch der symbiotische Mechanismus des sichtbaren Elends deutlich, die die eigentliche Klienten- beziehungsweise Klientinnen- und eben nicht Personenorientierung der Sozialen Arbeit verdeutlichen. Diese Präferenz für die Rolle der Klientel und eben gerade nicht, wie es sich noch Carl Rogers zum Ende seiner Schaffensperiode für Gesprächsführungstechniken gewünscht hat, die Präferenz für die jeweilige Person, gravitiert dann um ein Kommunikationsmedium, nämlich den sozialarbeiterischen Anspruch, das genau festhält, wann und wem und unter welchen Bedingungen eine sozialarbeiterische Leistung widerfahren darf und soll. Wir haben es, sofern die Analysen, die hier nicht einzeln nachgezeichnet werden sollen, stimmen sollten, also mit einer spezifisch gebauten Sozialen Arbeit zu tun, wie sie etwa seit Vives’ Zeiten nachzuweisen ist. Interessant ist dann überdies, wenn man auf den blinden Fleck des sozialarbeiterischen Anspruches, also des Kommunikationsmediums, achtet, dass genau der Bereich der Caritas, also der Bereich des bedingungsfreien Helfens und der Verzicht auf die Anspruchskonditionierung, in den sozialarbeiterischen Aktivitäten nicht mehr vorkommt und auch, von seiner Struktur her betrachtet, irritieren würde.


Was sind basale Adressabilitätsannahmen der Luhmann’schen Systemtheorie mit Bezug auf Soziale Arbeit?

Niklas Luhmann spielte nicht nur ein Spiel, indem er versuchte, verschiedene Vertrautheiten aufzubrechen, und beispielsweise annahm, dass Personen nicht kommunizieren können. Er verlagerte sie auch in die sogenannte Umwelt der sozialen Systeme. Die Personen produzieren nach seinem Dafürhalten Lärm, den das kommunikative, damit soziale, System benötigt. Der Lärm wird dann aber allein kommunikativ geordnet und zugerechnet, und zwar je nach dem, welche Konditionierungen von Seiten des Sozialsystems – das können Interaktionen, Gruppen oder Organisationen sein – gelten sollen. Er erhoffte sich bessere Erklärungen für das menschliche Sozialverhalten zu erhalten. Beispielsweise wird auf diese Weise erklärbar, warum bei Intake- oder Assessmentgesprächen nur bestimmte Äusserungen von Seiten des potenziellen Klienten oder der potenziellen Klientin aufgegriffen und weiterverarbeitet werden.

Ähnlich dem Heidegger’schen Diktum „Indes die Sprache spricht.“, kann man über die Zurechnung, wer was gesagt oder getan hat, das Entstehen der ,sozialen Adressen’ (Rollen, Personen, Organisationen) nachzeichnen und deren Verhaltensweisen im Umgang miteinander erklären. Soziale Adressen sind damit Referenz-, also Bezugspunkte, die kommunikativ den Mitteilenden ausflaggen helfen.

Soziale Systeme sind nach Luhmann demnach operativ geschlossen, da sie lediglich kommunikativ zurechnen, wer was gesagt hat, welcher Anschluss zu den Äusserungen passen soll und wie die Äusserungen gewertet werden.

Schaut man mit Luhmann jedoch auf die an der Kommunikation beteiligten Umwelten, die psychischen Systeme, wird, phänomenologisch betrachtet, schon deutlich, dass auch psychische Systeme operativ geschlossen sind, denn die Wahrnehmungsprozesse und Gedanken der an Gesprächen beteiligten Personen lassen sich, von aussen beobachtet, nur annehmen oder deuten, also zurechnen. Im Rahmen dieser Zurechnungen stossen die externen Beobachtungen jedoch nicht bis in den Operationsmodus der psychischen Systeme vor. Für sozialarbeiterische und -pädagogische Kontexte bedeutet dies zunächst einen prinzipiell verbauten Zugriff auf die Klientinnen und Klienten. Am Ende der Ableitungen – gesetzt, diese Überlegungen seien zutreffend – steht dann die Unsteuerbarkeit, aber immerhin noch Irritierbarkeit der Personen. Das ist der Ansatzpunkt für sozialarbeiterische Bemühungen, da damit deutlich wird, warum und unter welchen Bedingungen sich Klienten und Klientinnen beispielsweise das eine Mal beeinflussen lassen und ein anderes Mal nicht.


«Die Steuerung des Systems ist also immer Selbststeuerung…»

(Luhmann, 1988, 334)


Ethische Bezüge und Menschenbilder

«Menschenbilder, so was Grausliges.»

(Luhmann, 1991, x)

Das Interessante an den Theorieentwürfen der Luhmann’schen Systemtheorie ist, dass sie sich mit moralischen und ethischen Bewertungen so weit wie möglich zurückhält. Die Systemtheorie im Sinne Luhmanns sollte Beschreibungen liefern, nicht vorschreiben, wie die Dinge zu sein haben oder sich Personen verhalten sollten. Moral und Ethik tauchen, diesem Ansatz entsprechend, als Gegenstände der soziologischen Analyse auf, etwa wenn es um die Analyse von Protestbewegungen geht (Luhmann, 1996) oder in verschiedenen Aufsätzen, die als Sammelband posthum herausgegeben wurden (Luhmann, 2008). Das heisst nicht, dass Niklas Luhmann privat nicht auch bereit und in der Lage war, moralisch zu attribuieren. Aber eben nicht im Rahmen des wissenschaftlichen Vorgehens. Nicht zuletzt basieren Funktionssysteme seiner Ansicht nach auf Amoralität. Das heisst, Funktionssysteme regieren auf der Ebene ihrer Codierung nur auf einer zweiwertigen Unterscheidung, die andere Werte, wie etwa moralische, ausschliesst. Die Abstinenz in Bezug auf moralische Unterscheidungen ist einerseits als Vermeidung moralischer oder ethischer Vereinfachungen zu verstehen, da moralische Unternehmungen schnell vollzogen sind, ohne dass auf Wissenschaft und deren Analyse zurückgegriffen werden müsste. Es genügt auf basaler Ebene lediglich, etwas gut oder schlecht zu finden. Andererseits ist es schwierig zu begründen, warum moralische oder ethische Unternehmungen auf Personen oder Sozialsysteme wissenschaftlich, also theoriegedeckt, projiziert werden sollten, wenn es in der Moderne keine festen und unverrückbaren Prinzipien mehr geben kann: Indem man ein Dogma feststellt, werden in diesem Moment seine Latenzen oder blinden Flecken sichtbar, die es erst ermöglichen. Das heisst, dass die Beobachterrelativität dazu zwingt, auf diejenigen Gründe zu achten, die es erlauben sollen, moralisch oder ethisch zu richten. Mit diesem Fokus wird dann die Kontingenz, das Auch-anders-möglich-Sein, der Entscheidung sichtbar. Moralische Zurechnungen, damit sind auch normative Standards und Menschenbilder gemeint, sind also nach Luhmann beobachterabhängig. Sie sind nicht Ausfluss einer superioren Sicht auf die Welt, sondern markieren mit ihrem Duktus des Sich-Festlegens im Sinne des Normativen eine spezifische Lernunwilligkeit, nicht Lernunfähigkeit. Damit versperren sich moralische Unterscheidungen meist den Blick auf die möglichen Analyseoptionen, weil die Wertvorstellungen, die im Hintergrund dieser moralischen Attribuierungen stehen, zu dominant wirken. Sie wirken als Reflexionsblockade und führen eine Nicht-Hintergehbarkeit in die Kommunikation ein. Da dies wissenschaftlich unbefriedigend ist, lehnte Luhmann den Einsatz der normativ-moralischen Einflussmöglichkeit auf soziologische Unternehmungen ab. Ähnlich gelagert ist seine Sicht auf den Einsatz von Menschenbildern, die ebenfalls den moralischen Zeitgeistmoden ausgesetzt sind. Sie wurden zudem, genau durch solche Moden, inzwischen als Kompaktterm mit unzähligen Konnotionen und Traditionen so stark belichtet, dass das Wort des Menschenbildes und das des Menschen begrifflich nicht mehr trennscharf eingesetzt werden kann. Man kann die moralische Abstinenz auch mit der Theorieanlage der Trennung psychischer und sozialer Systeme begründen, denn wenn die psychischen Systeme als Umwelten der Sozialsysteme aufgefasst werden, rücken die Personen in den Modus der Privatheit zurück – eine Privatheit, über die letztlich nur konstruktivistisch, also im Modus des Zurechnens, gemeint ist die Attribuierung, gesprochen werden kann. Man kann über Personen, wenn es um die Frage des fehlenden Menschenbildes geht, eigentlich immer nur im Modus der sozialen Adresse, wenn über sie geredet wird, oder als psychische Adresse, wenn man sich seine Gedanken macht, disponieren. Sie, die soziale Adresse der Person, die nach Luhmann durch individuelle Zuschreibungen gekennzeichnet ist, bleibt aber immer ein soziales Produkt, also eine Zuschreibung, die keinen Zugriff auf das Ausleuchten des Binnenlebens des davon betroffenen Menschen hat. Die Ethik wird von Luhmann als Reflexionsinstanz der Moral aufgegriffen, um ihren hybriden Status zu untersuchen, da sie einerseits als Fremdbeschreiber der moralischen Unterscheidung auftritt, andererseits aber immer schon als Selbstbeschreiber fungiert, da sich die Ethik nicht von der Unterscheidung Achtung/Ächtung lösen kann. Diese Unterscheidung ist nach Ansicht Luhmanns konstitutiv für die moralische Kommunikation. Sie wird zudem als polemogen (altgr.: ὁ πόλεμος (Krieg) + -γεvής (verursachend) dt.: kriegstreiberisch) aufgefasst, da sie, eben als Unterscheidung, immer nur mit beiden Unterscheidungsseiten zu haben ist. Das heisst, dass Achtungserweise den Schatten der Missachtung nolens volens mit sich führen, und umgekehrt. Die polemogene Wirkung zeigt sich beispielsweise darin, dass diejenigen Personen als soziale Adressen, die mit Achtungs- oder Ächtungserweisen überzogen werden, typisch in kompletter Weise davon betroffen sind. Diese Vereinfachungen sind weder angemessen noch wissenschaftlich gedeckt oder gar notwendig. Zudem zwingt die moralische Kommunikation häufig in die Defensive und zum Festhalten an vielleicht längst überholten Meinungen, nur um das Gesicht in der Auseinandersetzung zu wahren. Man könnte festhalten, dass über die unvermeidbare Beobachterrelativität Moral oder auch Ethik zu einer ins Beliebige tendierenden Meinung gerät, die ihre Nachteile hat, aber auch Vorteile, die ihrerseits abgewogen werden müssen, sodass Achtungs- und Ächtungserweise als aggressive Akte (Papst Franziskus im ZEIT-Interview mit Giovanni di Lorenzo) dosiert eingesetzt werden sollten. Deshalb und aus Gründen der zu vermeidenden Verallgemeinerungen lassen sich verallgemeinerte Menschenbilder eben nicht mit redlichem Gewissen halten.

«Verallgemeinerungen sind Lügen.»

(Hauptmann, 1922, 49)


WIE WERDEN THEORIE UND PRAXIS ZUEINANDER INS VERHÄLTNIS GESTELLT?

Theorie-Praxis-Bezug

Die Brücke zwischen Theorie und Praxis führt in der Differenztheorie in erster Linie über begriffliche Klarheit und Definition der entsprechend verwendeten Theoreme. Mithilfe einer begrifflichen Grenzziehung wird deutlich, was der Begriff meinen soll und was er, genau aus diesem Grund der begrifflichen Klarheit, nicht meint. Damit wird der theoretische Zusammenhang klar, nachvollziehbar und in sich entweder schlüssig – oder eben nicht. Die theoretischen Definitionen finden dann im Anschluss ihr Korrelat in der Anschauung der sogenannten Praxis. Es gilt demnach, einen begrifflichen, also theoretischen, und empirischen Zusammenhang herstellen zu können. Falls den theoretischen Konstruktionen keine Entsprechung in der Empirie gegenübergestellt werden kann, etwa bei den Worten Differenz, Funktionssystem oder System usw. muss das fehlende Korrelat ausgewiesen und gegebenenfalls besonders begründet werden. Mit diesem Fokus auf begriffliche Klarheit soll darauf hingewiesen werden, dass ein Grossteil des Vertrauens in sozialarbeiterischen Beziehungen zu Klienten und Klientinnen durch begriffliche Unschärfen verspielt wird, sodass Sozialarbeitsklischees überdeutlich und dominant werden – etwa bei der Rede vom ,Rand der Gesellschaft’, der ,integriert’ werden soll, oder aber beim fahrlässigen Gebrauch des Wortes ,Behinderung’ sowie bei der sogenannten ,geistigen Behinderung’. Da es für praktische sozialarbeiterische Zwecke nicht beliebig ist, welche theoretischen Annahmen hinter den jeweiligen Interventionen stecken, können differenztheoretische Ansätze zur Auflösung ontologischer Seinsannahmen beitragen, da die Beobachterabhängigkeit wie ein Memento im Hinterkopf klingen kann. Sie kann zudem dafür sorgen, sich über Selbstverständlichkeiten, die als kulturelle Praxis eingeschliffen sind, zu wundern und nach den Bedingungen der Möglichkeiten, etwa für Begriffsentscheidungen, Diskursentwicklungen oder aber sozialarbeiterische Praktiken, fragen helfen.


Ergänzende Videos zur Thematik

Boehm, Ulrich. (1973). Gespräch mit Niklas Luhmann: Grundzüge der Systemtheorie [Video-Clip, gekürzt]. In Westdeutscher Rundfunkt Köln (WDR). Uniaudimax[abgerufen am 05.09.2018].

Fuchs, Peter. (o.J.). Systemtheoretisches Denken – Fragen an Prof. Dr. Peter Fuchs. [Video-Clip][abgerufen am 05.09.2018].

Fuchs, Peter. (o.J.). Das Selbst als System. [Video-Clip][abgerufen am 05.09.2018].

Geyer, Andreas. (1994). Niklas Luhmann: „Eine Welt aus Systemen“ Im Gespräch mit Niklas Luhmann [Video-Clip]. In Schulfunk / Bayerischer Rundfunk (BR) [abgerufen am 05.09.2018].


Literatur


Baecker, Dirk. (1994). Soziale Hilfe als Funktionssystem der Gesellschaft. In Zeitschrift für Soziologie, Jg. 23, Heft 2, April, 93-110.

Baecker, Dirk. (2002). Wozu Systeme?. Berlin: Kadmos.

Baecker, Dirk. (2005a). Form und Formen der Kommunikation. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Baecker, Dirk. (2005b). Schlüsselwerke der Systemtheorie. Wiesbaden: VS-Verlag.

Baecker, Dirk. (2008). Nie wieder Vernunft: Kleinere Beiträge zur Sozialkunde. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag.

Foerster, Heinz von. (1993). KybernEthik (S. 73). Berlin: Merve Verlag.

Fuchs, Peter & Schneider, Dietrich. (1995). Das Hauptmann-von-Köpenick-Syndrom. Überlegungen zur Zukunft funktionaler Differenzierung. In Soziale Systeme, Zeitschrift für soziologische Theorie. Jahrgang 1, Heft 2, 203-224.

Fuchs, Peter. (2007). Das Maß aller Dinge. Eine Abhandlung zur Metaphysik des Menschen. Weilerswist: Velbrück GmbH Bücher und Medien.

Gerhart Hauptmann (1922): Aufzeichnungen, in: Gesammelte Werke. Band 12: Aufzeichnungen. Erzählendes. Gedichte. Dramatisches. S. Fischer

Heider, Fritz. (1926). Ding und Medium. – In Symposium. Philosophische Zeitschrift für Forschung und Aussprache, Bd.1, H. 2, 109-157.

Kleve, Heiko. (2000). Die Sozialarbeit ohne Eigenschaften. Fragmente einer postmodernen Professions- und Wissenschaftstheorie Sozialer Arbeit. Freiburg im Breisgau: Lambertus.

Maaß, Olaf (2007): ‚Anspruch’ als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium der Sozialen Arbeit, in: Otto, Hans-Uwe / Thiersch, Hans (Hg.): Neue Praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik, Jahrgang 37, Heft 6/07.

Maaß, Olaf. (2009). Soziale Arbeit als Funktionssystem der Gesellschaft. Heidelberg: Verlag für Systemische Forschung im Carl-Auer-Systeme Verlag.

Maaß, Olaf. (2012). Vorlesungen zur (Wohl-)Temperierung der Sozialen Arbeit. Heidelberg: Verlag für systemische Forschung im Carl-Auer-Systeme Verlag.

Luhmann, Niklas. (1975). Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen. In ders., Soziologische Aufklärung 2, Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft (S. 134-149). Opladen: WDV.

Luhmann, Niklas. (1984). Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas. (1987). Strukturelle Defizite. Bemerkungen zur systemtheoretischen Analyse des Erziehungswesens. In Jürgen Oelkers & Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Systemtheorie (S. 57-75). Weinheim-Basel: Beltz Verlag

Luhmann, Niklas (1988). Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas. (1991). Interview. In Texte zur Kunst, Vol. I, No. 4, 121-133.

Luhmann, Niklas. (1996). Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, hrsg. u. eingel. v. Kai-Uwe Hellmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas. (2008). Die Moral der Gesellschaft. Detlef Horster (Hrsg.). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Spencer-Brown, George. (1997). Laws of Form, Gesetze der Form. Lübeck: Boheimer Verlag.

Zitiervorschlag:

Maass, Olaf. (2021). Niklas Luhmanns Systemtheorie, Soziale Arbeit und andere differenztheoretische Ansätze, Soziale Arbeit (Hrsg.), Theorielinienhttps://virtuelleakademie.ch/good-practice-beispiele/theorielinien/niklas-luhmanns-systemtheorie-soziale-arbeit-und-andere-differenztheoretische-ansaetze/

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz