Soziale Arbeit als Transdisziplin und die Bezugswissenschaften

Die Disziplin Soziale Arbeit greift auf Bestände aus wissenschaftlichen Disziplinen wie der Soziologie, der Psychologie, der Erziehungswissenschaft oder der philosophischen Ethik zurück. Diese Disziplinen werden als Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit bezeichnet. Der Begriff der Bezugswissenschaft impliziert ein multidisziplinäres Verhältnis dieser Einzelwissenschaften zur Disziplin Soziale Arbeit. Das heisst, sie bearbeiten die Frage- und Problemstellungen der Sozialen Arbeit aus ihrem jeweiligen disziplinären Paradigma heraus. Soziale Arbeit ist aber eine Transdisziplin. Als Transdisziplin hat Soziale Arbeit ihre eigenständigen Frage- und Problemstellungen, die bestimmen, welche disziplinären Ressourcen für deren Bearbeitung geeignet sind. Deshalb ist das Konzept der Bezugswissenschaft nicht geeignet, das Verhältnis zwischen der Disziplin Soziale Arbeit und den einzelwissenschaftlichen Beständen, auf die sie zurückgreift, zu bestimmen. In einem transdisziplinären Verständnis gehen einzelwissenschaftliche Bestände integral und nicht aus einem einzelwissenschaftlichen Paradigma in die Disziplin Soziale Arbeit ein. Wie diese Integration erfolgen kann, wird für die philosophische Ethik in den Grundzügen aufgezeigt.

 


Der Gegenstand der Sozialen Arbeit und die Bezugswissenschaften

«Der Gegenstand der Sozialen Arbeit sind soziale Probleme. Diese haben Aspekte, die umfassend in Einzelwissenschaften bearbeitet werden. Die Disziplin Soziale Arbeit greift deshalb auf Erkenntnisse aus diesen Wissenschaften zurück. Die Wissenschaften, auf deren Bestände die Disziplin Soziale Arbeit zurückgreift, werden in der Sozialen Arbeit traditionell als Bezugswissenschaften bezeichnet.»

Zu den Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit werden Soziologie, Ökonomie, Politikwissenschaft, Erziehungswissenschaft/Pädagogik, Psychologie, Ethik, Rechtswissenschaft, Geschichte, Philosophie und Theologie gezählt (vgl. Engelke, Spatscheck & Borrmann, 2009, S. 301; Schumacher, 2011). Inhalte aus diesen Wissenschaften werden in Studiengängen der Sozialen Arbeit gelehrt. Der sachliche Grund hierfür ist, dass Frage- und Problemstellungen der Sozialen Arbeit soziale, psychologische, ökonomische, pädagogische, geschichtliche, ethische und rechtliche Aspekte haben. Denn der Gegenstand der Sozialen Arbeit sind soziale Probleme und diese haben in ihrer Konstitution und Verursachung soziale, psychologische, ökonomische, pädagogische geschichtliche, ethische und rechtliche Aspekte. Zu deren Behebung oder Vorbeugung wird entsprechend auf Wissen über diese Aspekte zurückgegriffen. Der Begriff der Bezugswissenschaft leitet sich folglich aus dem Gegenstand der Sozialen Arbeit ab.

Was ist der Gegenstand der Sozialen Arbeit?

Dass soziale Probleme der Gegenstand der Sozialen Arbeit sind, gehört so sehr zum Allgemeinwissen der Sozialen Arbeit, dass der Begriff des sozialen Problems als leere Formel erscheinen kann, die erst durch eine weitergehende inhaltliche Bestimmung Gehalt gewinnt. Tatsächlich beinhaltet aber schon der Begriff des sozialen Problems wesentliche Elemente für die nähere Bestimmung des Gegenstandes der Sozialen Arbeit. Anhand der Analyse dieses Begriffes lässt sich auch der Bezug zu den Wissensbeständen aus den als Bezugswissenschaften bezeichneten Einzelwissenschaften herstellen, wie ich im Folgenden aufzeigen will.

Die Frage- und Problemstellungen der Disziplin Soziale Arbeit sind praktische Frage- und Problemstellungen. Denn Soziale Arbeit ist eine Praxis, die sich als Profession formiert hat. Und Soziale Arbeit als wissenschaftliche Disziplin begründet und reflektiert diese Praxis. Praktische Fragen und Probleme sind Fragen und Probleme des richtigen Handelns. Fragen und Probleme des richtigen Handelns verweisen auf normative Orientierungen, indem begründete Antworten darauf, worin das richtige Handeln besteht, das Handeln orientieren. Für die Soziale Arbeit lässt sich die normative Orientierung aus dem Begriff des sozialen Problems entwickeln. Denn ein Problem verweist auf einen Zustand oder auf Umstände, die negativ bewertet sind. Damit ist im Begriff des sozialen Problems eine normative Orientierung für das sozialarbeiterische Handeln impliziert, nämlich die Prävention oder Überwindung der als negativ beurteilten Zustände oder Umstände.

Soziale Probleme sind sowohl synchron als auch diachron höchst vielfältig. Diese Vielfalt kann den Eindruck erwecken, dass die Soziale Arbeit keinen oder einen höchst diffusen Gegenstand hat. Diese Vielfalt ist aber als Faktum zu akzeptieren. Dennoch lässt sich der Gegenstand des sozialen Problems in der Dimension des Sozialen näher bestimmen. Es geht danach um Problemlagen, welche gesellschaftliche Ursachen haben oder in gesellschaftlichen Umständen begründet sind. Ein wesentlicher gesellschaftlicher Umstand für die Mitglieder einer Gesellschaft ist die soziale Integration: Individuen bedürfen der sozialen Integration für ihre Lebensgestaltung und die Gesellschaft ist für ihr Fortbestehen auf die soziale Integration der Individuen angewiesen. Soziale Probleme sind entsprechend zum einen gesellschaftlich begründete Behinderungen oder Beschränkungen von Individuen in ihrer Lebensgestaltung und zum anderen Lebensstile von Individuen, die deren eigene soziale Integration oder das gesellschaftliche Zusammenleben behindern. Dies ist ein präzisierter Sinn sozialer Problemlagen, der die sozialen Probleme auf Probleme der gesellschaftlichen Integration von Individuen fokussiert und auch die von Individuen verursachten Probleme gesellschaftlicher Integration in den Blick nimmt.

Daraus ergeben sich Orientierungen für die sozialarbeiterische Praxis, nämlich einerseits sozialer Wandel als die Veränderung der gesellschaftlichen Umstände, die soziale Integration behindern oder verhindern, und andererseits die Unterstützung der betroffenen Menschen, sich selbst zu verändern, um ihre soziale Integration zu ermöglichen oder zu verhindern, dass sie die soziale Integration anderer behindern.

Soziale Probleme als gesellschaftlich begründete Problemlagen im zuvor präzisierten Sinn haben soziale, psychologische, ökonomische, pädagogische, geschichtliche, ethische, rechtliche und pädagogische Aspekte. Diese Aufzählung ist nicht als umfassend und abschliessend zu verstehen und ihr Nachweis kann hier nicht systematisch geführt werden. Es ist aber offensichtlich, dass die Disziplin Soziale Arbeit tatsächlich solche Aspekte bearbeitet. Der systematische Zusammenhang wird am Beispiel der ethischen Aspekte weiter unten ausgeführt. Die Vielfalt dieser Aspekte sozialer Probleme ist der Grund, wieso Soziale Arbeit als Praxis in der Bearbeitung und Prävention sozialer Probleme über die Disziplin Soziale Arbeit auf Bestände aus den sogenannten Bezugswissenschaften zurückgreifen muss.

Der Begriff der Bezugswissenschaft ist problematisch

«Der Begriff der Bezugswissenschaft impliziert die multidisziplinäre Bearbeitung der Frage- und Problemstellungen der Disziplin Soziale Arbeit. Dies widerspricht aber der Eigenständigkeit der Frage- und Problemstellungen dieser Disziplin.»

Dass es Bezugswissenschaften gibt, steht nicht in Frage. Problematisch ist das im Begriff der Bezugswissenschaft implizierte Verhältnis der Disziplin Soziale Arbeit zu diesen Wissenschaften. Es impliziert nämlich, dass die Frage- und Problemstellungen der Sozialen Arbeit durch Bezug auf diese Wissenschaften hinreichend und adäquat bearbeitet werden können. Denn diese Wissenschaften sind im Begriff der Bezugswissenschaft als eigenständige Wissenschaften benannt: die Soziologie, die Psychologie, die Ökonomie und so fort. Der Begriff der Bezugswissenschaften impliziert daher ein multidisziplinäres Verständnis der Bearbeitung einer wissenschaftlichen Frage- und Problemstellung. Eine wissenschaftliche Bearbeitung ist multidisziplinär, wenn die Problemstellung oder Aspekte derselben mit Erkenntnissen, Konzepten, Theorien und Methoden etablierter wissenschaftlicher Disziplinen aus dem jeweiligen disziplinären Paradigma bearbeitet werden (Choi & Pak, 2006).

Doch stimmt das? Wie wir festgestellt haben, ist der Bezug der Sozialen Arbeit auf die Bezugswissenschaften darin begründet, dass die Frage- und Problemstellungen der Sozialen Arbeit soziale, psychologische, ökonomische, pädagogische, geschichtliche, ethische und rechtliche Aspekte haben. Daraus folgt jedoch nicht, dass diese Wissenschaften die Frage- und Problemstellungen der Sozialen Arbeit aus ihrem jeweiligen disziplinären Paradigma heraus hinreichend bearbeiten und beantworten können. Denn die Disziplin Soziale Arbeit hat eigenständige Frage- und Problemstellungen, die sich von den Frage- und Problemstellungen der Bezugswissenschaften unterscheiden. Anders ausgedrückt: Die Frage- und Problemstellungen der Disziplin Soziale Arbeit sind weder soziologische, psychologische, ökonomische, pädagogische, geschichtliche, ethische oder rechtliche Frage- und Problemstellungen, auch wenn sie solche enthalten. Deshalb muss die Disziplin Soziale Arbeit auf bezugswissenschaftliche Bestände, aber nicht im Rahmen von deren Problemstellungen und Paradigmen zurückgreifen. Die multidisziplinäre Bearbeitung wird den Frage- und Problemstellungen der Disziplin Soziale Arbeit nicht gerecht, weil diese eigenständige Frage- und Problemstellungen sind, die nicht in den Frage- und Problemstellungen der Bezugswissenschaften aufgehen. Dieser Zusammenhang zwischen Fragestellungen und wissenschaftlichen Disziplinen soll im Folgenden genauer begründet werden.


Die Autonomie wissenschaftlicher Disziplinen oder Über den Zusammenhang von Fragestellung und wissenschaftlicher Disziplin

Wissenschaftliche Disziplinen zeichnen sich durch eigenständige Frage- und Problemstellungen aus. Das heisst, sie sind autonom. Daher können die Frage- und Problemstellungen einer wissenschaftlichen Disziplin nicht hinreichend und adäquat durch andere wissenschaftliche Disziplinen bearbeitet werden. Somit können auch die Frage- und Problemstellungen der Disziplin Soziale Arbeit nicht hinreichend und adäquat durch die Bezugswissenschaften bearbeitet werden.

Wissenschaft ist ein kulturelles Phänomen, von Menschen geschaffen, um theoretisches Wissen zu erlangen und festzuhalten, das über das Alltagswissen hinausgeht, und um praktische Probleme zu lösen. Die Form der systematischen Darstellung wissenschaftlicher Konzepte und Erkenntnisse ist die Theorie. Wissenschaft entstand, nachdem man Methoden entdeckt hatte, wie sich Wissen einer bestimmten Art systematisch gewinnen liess. Die Tätigkeit des methodischen Gewinnens neuen Wissens nennt man Forschung.
Philip Kitcher (1995, S. 74) hat an Beispielen erfolgreicher wissenschaftlicher Praxis wesentliche Elemente einer wissenschaftlichen Disziplin herausgearbeitet:

  • Es wird eine wissenschaftliche Sprache und Begrifflichkeit verwendet;
  • es bestehen Fragen und Problemstellungen, die gelöst werden sollen;
  • es gibt eine Menge akzeptierter Aussagen sowie weitere Darstellungsformen wie Schemata, Diagramme;
  • für akzeptierte Aussagen können erklärende Begründungen beigebracht werden;
  • die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kennen Standards für glaubwürdige Informationsquellen inklusive Personen;
  • es gibt Beispiele guter sowie fehlerhafter wissenschaftlicher Argumentation;
  • für empirische Wissenschaften gilt zudem, dass Beobachtungparadigmen und experimentelle Paradigmen, Instrumente und Werkzeuge bestehen, die als zuverlässig beurteilt werden.

Zentral für die Beurteilung des Verhältnisses zwischen der Disziplin Soziale Arbeit und den Bezugswissenschaften ist das zweite Element, die Orientierung an Frage- und Problemstellungen. Eine Wissenschaft formiert sich um Frage- und Problemstellungen. Diese sollen beantwortet oder gelöst werden und auf diese beziehen sich die anderen Elemente dieser Liste. Die Wissenschaften unterscheiden sich in ihren Frage- und Problemstellungen. Wissenschaften sind in dem Sinne autonom, als sie ihre eigenen, voneinander verschiedenen Frage- und Problemstellungen verfolgen. Dabei greifen sie oft auf die Erkenntnisse aus anderen Wissenschaften zurück, aber aus ihren eigenen Frage- und Problemstellungen heraus und vor dem Hintergrund ihrer Erkenntnisbestände (in die auch Erkenntnisse aus anderen Wissenschaften integriert sein können).
Die eigenständigen Frage- und Problemstellungen der Sozialen Arbeit sind der Grund, wieso sich der Bedarf für eine Disziplin der Sozialen Arbeit ergibt und wieso sie sich formiert hat. Dem entspricht auch die Art, wie bezugswissenschaftliche Bestände in der Sozialen Arbeit tatsächlich integriert sind. Die Bezugswissenschaften fliessen nicht umfassend in die Soziale Arbeit ein, sondern nur spezifische Gehalte aus diesen. Es sind diejenigen Gehalte, die sich in der Bearbeitung der Frage- und Problemstellungen der Sozialen Arbeit als notwendig und hilfreich erweisen. Damit ist ein multidisziplinäres Verständnis des Verhältnisses zwischen der Disziplin Soziale Arbeit und den Bezugswissenschaften nicht adäquat. Also ist auch das Konzept der Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit nicht adäquat.


Soziale Arbeit als Transdisziplin

«Auf einzelwissenschaftliche Bestände wird in der Disziplin Soziale Arbeit dann zurückgegriffen, wenn und insofern sie für die Bearbeitung eigenständiger Frage- und Problemstellungen notwendig und hilfreich sind. Das ist der transdisziplinäre Modus der disziplinären Integration einzelwissenschaftlicher Bestände. Damit ist die Soziale Arbeit eine Transdisziplin.»

Mit diesem negativen Befund bezüglich der multidisziplinären Bearbeitung der Frage- und Problemstellungen der Sozialen Arbeit bleibt aber die Frage unbeantwortet, wie die wissenschaftlichen Bestände der sogenannten Bezugswissenschaften in die Disziplin Soziale Arbeit eingehen.

Für die Frage der Integration wissenschaftlicher Erkenntnisse, Konzepte, Theorien und Methoden aus unterschiedlichen Disziplinen ist die dreifache Unterscheidung von Multi-, Inter- und Transdisziplinarität geläufig, die Formen der Integration genauer differenziert. Als Oberbegriff wird homonym oft ebenfalls der Begriff der Interdisziplinarität verwendet.

Choi und Pak (2006) haben die Literatur zur Interdisziplinarität umfassend gesichtet und die folgenden Definitionen für die Unterscheidung von Multi-, Inter- und Transdisziplinarität herausgearbeitet:

«Multidisciplinarity draws on knowledge from different disciplines but stays within the boundaries of those fields.

Interdisciplinarity analyzes, synthesizes and harmonizes links between disciplines into a coordinated and coherent whole.

Transdisciplinarity integrates the natural, social and health sciences in a humanities context, and in doing so transcends each of their traditional boundaries.»

(Choi & Pak, 2006, S. 359)

Es fällt in der Definition der Transdisziplinarität auf, dass sie im Unterschied zu den Definitionen von Multi- und Interdisziplinarität nicht dieselbe Abstraktheit hat, sondern disziplinäre Bereiche sowie den Kontext der Frage- und Problemstellungen benennt (engl.: humanities context). Dies hat mit dem tatsächlichen Bedarf für Transdisziplinarität zu tun. Dieser entsteht für die Frage- und Problemstellungen im Zusammenhang mit individuellen und gesellschaftlichen Praxen.

Thompson Klein (2010, S. 16) stellt zu Recht fest, dass Multidisziplinarität eine Pseudo-Interdisziplinarität ist, weil Frage- und Problemstellungen aus den jeweiligen Disziplinen heraus bearbeitet werden. Dies haben wir zuvor am Fall der Sozialen Arbeit erkannt. „Wahre Interdisziplinarität ist integrierend, interagierend, verbindend und fokussierend.“ (ebd.) Thompson Klein (ebd.) nennt Sozialpsychologie, Biogeographie, Wirtschaftsethnologie oder Wirtschaftsgeschichte als Beispiele für eine Interdisziplinarität im engeren Sinne, allerdings nicht im Sinne des allgemeinen Begriffs für die Integration wissenschaftlicher Bestände. Im interdisziplinären Paradigma werden Gegenstände, die von den Einzelwissenschaften nicht bearbeitet werden, in neuer und eigenständiger Weise bearbeitet, mit neuen Konzepten, Theorien und Methoden, die durch Integration von Erkenntnissen, Konzepten, Theorien und Methoden aus den Einzelwissenschaften entstanden sind. Für die Interdisziplinarität ist die enge Orientierung an den disziplinären Paradigmen kennzeichnend, auch wenn diese zu einem neuen Paradigma erweitert werden.

Aber erst die Transdisziplinarität bietet die Offenheit, Frage- und Problemstellungen in den Mittelpunkt zu stellen und die wissenschaftliche Bearbeitung konsequent an diesen zu orientieren, indem die wissenschaftlichen Ressourcen zu deren Bearbeitung von diesen abgeleitet und auf diese abgestimmt werden. „Transdisciplinarity is transcending, transgressing, and transforming, it is theoretical, critical, integrative, and restructuring” (ebd.). Dies

beschreibt eine wissenschaftliche Bearbeitung, die von eigenständigen Frage- und Problemstellungen ausgeht, für deren wissenschaftliche Bearbeitung sie auf Bestände aus anderen Wissenschaften zurückgreifen muss.

Für die Disziplin Soziale Arbeit ist die transdisziplinäre Integration offensichtlich zutreffend. Denn nur Transdisziplinarität erlaubt die hinreichende Integration für die Bearbeitung der eigenständigen Frage- und Problemstellungen der Disziplin Soziale Arbeit. Soziale Arbeit ist notwendig eine Transdisziplin.

Die transdisziplinäre Bearbeitung bedeutet, dass die eigenständigen Frage- und Problemstellungen der Sozialen Arbeit Grundlage der Beurteilung sind, welche einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse, Konzepte, Theorien und Methoden zu deren Bearbeitung herangezogen werden sollen. Zentral sind hierbei Theorien der Sozialen Arbeit. Diese sollten den Gegenstand der Sozialen Arbeit, also soziale Probleme, allgemein bestimmen und als Handlungstheorien allgemeine Orientierungen für die Intervention bei sozialen Problemlagen geben. Diese sollen sich sowohl auf die Klientinnen und Klienten als auch auf den gesellschaftlichen Wandel beziehen. Die einzelwissenschaftlichen Bestände sollten in die Theorien der Sozialen Arbeit integral in einer Form eingehen, wie sie für die Bearbeitung der Frage- und Problemstellungen der Sozialen Arbeit notwendig und hilfreich sind.

Schliesslich stellt sich die Frage, wie wir es mit dem Begriff der Bezugswissenschaften halten sollen. Für die Soziale Arbeit als Transdisziplin sollten die Einzelwissenschaften im Vergleich zu den Theorien der Sozialen Arbeit nachgelagerten Status haben. Diese sollten die Einzelwissenschaften so integrieren, dass auf diese nicht mehr unmittelbar Bezug genommen werden muss. Der Begriff der Bezugswissenschaften wäre dann mit der Zeit nur noch von historischem Interesse, der auf die Epoche verwiese, als sich die Soziale Arbeit als Disziplin formierte.


Die transdisziplinäre Integration der philosophischen Ethik

«Die philosophische Ethik bearbeitet normative Fragen für Individuen und die Gesellschaft in allgemeiner Form. Die transdisziplinäre Integration der Bestände der philosophischen Ethik in die Soziale Arbeit erfolgt im Ausgang von Theorien der Sozialen Arbeit, die die normativen Aspekte Sozialer Arbeit identifizieren. Auf die so identifizierten normativen Frage- und Problemstellungen wird von der Sache her geeignetes Wissen aus der philosophischen Ethik angewandt. Dabei ist zu erwarten, dass dieses Wissen modifiziert oder erweitert werden muss.»

In einem transdisziplinären Verständnis sollten die einzelwissenschaftlichen Bestände so in die Theorie der Sozialen Arbeit eingehen, dass sie für die Bearbeitung der Frage- und Problemstellungen der Sozialen Arbeit notwendig und hilfreich sind. Zuerst muss festgestellt werden, dass keine Theorie der Sozialen Arbeit diese Integration tatsächlich leistet, weshalb es sich hier um ein Desiderat handelt. Gleichwohl lassen sich Theorien der Sozialen Arbeit ausmachen, die zumindest den normativen Aspekt der Sozialen Arbeit artikulieren. Daran lassen sich die philosophischen Disziplinen der Ethik und der politischen Philosophie anschliessen, indem sie die so eröffneten Frage- und Problemstellungen zu beantworten und zu lösen versuchen. In den Grundzügen will ich ein solches Unternehmen, ausgehend von der Professionstheorie von Ulrich Oevermann skizzieren.

Eine Professionstheorie versucht das Phänomen der Professionen zu erklären, also von Berufen, die eine akademische Ausbildung voraussetzen, sich um zentrale gesellschaftliche Werte kümmern, weitgehende Autonomie beanspruchen und mit einem hohen sozialen Prestige verbunden sind (vgl. zum Beispiel Hughes, 1963). Oevermann (1996a; 2000) sieht Professionen in einem gemeinsamen Sachproblem begründet, für das das professionelle Handeln Unterstützung und Lösungen anbietet. Das Sachproblem, um das sich nach Oevermann professionelles Handeln bemüht, ist die Krisenhaftigkeit der menschlichen Existenz. Krisen sind Störungen oder Einbrüche in die erfolgreiche oder gelingende Lebenspraxis von Individuen oder auch Gruppen. Das Gelingen und der Erfolg messen sich an der Bewältigung und Verhinderung von Krisen. Dabei sind latente oder auch manifeste Krisen eine Grundtatsache der menschlichen Existenz. Der Mensch ist in jeder Lebensphase von Krisen bedroht. Dass sie nicht manifest werden, ist spezifischen

Formen der Krisenprävention zu verdanken, die der Mensch in seiner biologischen und kulturellen Evolution erworben und entwickelt hat und die er als Individuum in der Ontogenese und Sozialisation erwirbt. Wenn Krisen ausbrechen, bestehen ebenfalls ontogenetisch sowie kulturell erworbene Mittel, diese nach Möglichkeit zu bewältigen. Typische kritische Phasen der menschlichen Existenz sind Geburt und Tod, Krankheit, die Sozialisationsphasen (primäre: Elternhaus, sekundäre: Gleichaltrige und Schule, tertiäre: Berufswelt, quartäre: Alter), das Eingehen und Auflösen persönlicher Bindungen, Abhängigkeiten und Sucht. Weiter können Krisen durch äussere Ursachen ausgelöst werden: Gewalt, politische Unruhen, Verfolgung und Krieg. Professionelles Handeln unterstützt nun in Krisen, wenn eine Person mit den eigenen Ressourcen eine Krise nicht bewältigen kann. Der Klient oder die Patientin delegiert dann die Krisenbewältigung an professionelle Experten und Expertinnen, sodass es zu einer stellvertretenden Krisenbewältigung kommt.

Für die krisenhafte condition humaine sind natürliche Normen (Burge, 2010, S. 311) konstitutiv. Natürliche Normen sind in Funktionen von Systemen begründet. Die Funktion ist hierbei die gelingende Lebenspraxis. Diese hängt von biologischen, individuellen und gesellschaftlichen Mitteln und Strategien der Krisenprävention und Krisenbewältigung ab. Für die Krisenprävention und Krisenbewältigung hängt das Individuum insbesondere von gesellschaftlichen Leistungen und Gütern ab. Andererseits muss das Individuum Beiträge leisten, damit diese Funktion der Krisenprävention und Krisenbewältigung in einer Gesellschaft erfüllt wird, denn diese wird durch die Mitglieder der Gesellschaft geleistet. In der Verteilung von Gütern und Lasten in einer Gesellschaft konstituiert sich das normative Phänomen der Gerechtigkeit. Es handelt sich bei den gesellschaftlichen Ressourcen der Krisenbewältigung und der Krisenprävention also sowohl um Ansprüche an die als auch Beiträge zur Gerechtigkeit – entsprechend der alten Bestimmung von Gerechtigkeit als dasjenige, was wir einander als Mitglieder einer Gesellschaft schulden. Gesellschaften haben aber mehr Ressourcen und bieten mehr Chancen und Möglichkeiten, als zur Krisenprävention und -bewältigung notwendig sind. Entsprechend erweitern sich die Güter und Lasten, deren Verteilung eine Frage der Gerechtigkeit sind.

Die politische Philosophie analysiert den Begriff der Gerechtigkeit und begründet Prinzipien der Gerechtigkeit. Sie bestimmt also, wie Güter und Lasten in einer Gesellschaft verteilt sein müssen, damit diese gerecht ist. Die Herausarbeitung der Gerechtigkeitsdimension gerade eben beruht auf der philosophischen Analyse des Gerechtigkeitsbegriffs (vgl. zum Beispiel Rawls, 1971, S. 4). Die Bestände der politischen Philosophie gehen integral in die Disziplin der Sozialen Arbeit ein, indem die Gerechtigkeitsansprüche für die Krisenbewältigung und Krisenprävention im Rahmen allgemeiner Gerechtigkeitstheorien bestimmt werden. Dies kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Doch ein vielversprechender Ansatz ist der Befähigungsansatz (engl. capabilities approach) von Martha Nussbaum (2007). Sie leitet aus dem Begriff der menschlichen Würde Gerechtigkeitsansprüche ab als „core human entitlements that should be respected and implemented by the governments of all nations, as a bare minimum of what respect for human dignity requires” (S. 70). Mit solchen minimalen Ansprüchen soll Gerechtigkeit nicht vollständig erfasst werden, sondern eine untere Schranke von Gerechtigkeitsansprüchen bestimmt werden. Die Orientierung am Begriff der Menschenwürde zusammen mit dem Konzept der Fähigkeiten (capabilities) – „what people are actually able to do and to be, in a way informed by an intuitive idea of a life that is worthy of the dignity of the human being” (ebd.) – lässt eine Verbindung mit dem Konzept der Krisenbewätigung und -prävention vermuten. Die Prävention und Bewältigung von Krisen ist Bedingung für eine gelingende Lebenspraxis und ist in diesem Sinne ebenfalls ein Minimum, um ein menschliches Leben zu leben. Und sie hängt von Fähigkeiten im Sinne von Capabilities ab als solches, was Menschen in der Lage sind zu tun und zu sein. Diese Zusammenhänge müssten nun weiter ausgearbeitet werden, damit die die philosophische Theorie des Capabilities Approaches integral in die Disziplin Soziale Arbeit eingeht.

Die erfolgreiche Krisenprävention und Krisenbewältigung lassen die konkrete Lebenspraxis, die sich auf dieser Grundlage entfalten kann, unterbestimmt. Hier eröffnet sich die (nicht-natürliche, vgl. oben) Normativitätsdimension der Orientierung des eigenen Lebens. Sie ergibt sich aus der Frage, wie man sein Leben im Rahmen der Chancen und Möglichkeiten leben will, die eine Gesellschaft bieten muss, also im Rahmen der Ansprüche der Gerechtigkeit. Mit dieser Frage beschäftigt sich die philosophische Ethik als sogenannte Strebensethik. Zu den Grunderkenntnissen und grundlegenden begründenden Beschäftigungen gehört hier die rahmende moralische Norm der Achtung von Selbstbestimmung, die sich aus der Perspektive des Individuums als Recht auf Selbstbestimmung ausnimmt. Daraus folgt, dass die das Leben orientierenden Massstäbe keinen verpflichtenden Status haben, sondern der Freiheit und Beurteilung des einzelnen Menschen überlassen sind. Das bedeutet aber auch, dass das Leben des eigenen Lebens in dieser Offenheit eine Herausforderung darstellt. Und es lässt sich dann argumentieren, dass erstens Menschen dazu befähigt werden müssen und dass zweitens eine Gesellschaft unterschiedliche tatsächlich gelebte und ausprobierte Konzeptionen des Lebens zulassen und anbieten muss (Mill, 1859/1987), mit anderen Worten: dass die Gesellschaft eine liberale Gesellschaft sein muss, die die Menschen befähigt, ihr Leben nach diesen individuellen Freiheiten zu führen.

Für die Orientierung des eigenen Lebens im Sinne nicht-kategorischer Normen bietet die Philosophie einige Konzepte an: die Entwicklung von Fertigkeiten und Begabungen (Perfektionismus, vgl. Hurka, 1993), die Bemühung um das Wohl der anderen (Utilitarismus), die Pflege gemeinschaftlicher Güter und Werte (Kommunitarismus) oder idiosynkratische Listen von Werten (zum Beispiel Griffin, 1997, S. 29–30). Die Bestände der philosophischen Ethik gehen integral in die Disziplin der Sozialen Arbeit ein, indem die grundlegende menschliche Aufgabe der Orientierung des eigenen Lebens mit den spezifischen Herausforderungen verbunden wird, die sich Klientinnen und Klienten der Sozialen Arbeit stellen. Auch hier müsste die transdisziplinäre Integration weitergeführt werden.

Ich will zum Abschluss auf einen methodischen Ansatz für diese normative Herausforderung der Orientierung des eigenen Lebens verweisen, der sich aus der philosophischen Disziplin der Ästhetik begründen lässt: die Verwendung oder Simulation der künstlerischen Praxis und Erfahrung. Denn in der Praxis und Erfahrung von Kunst sind die Offenheit und Freiheit hinsichtlich der Orientierung des Schaffens beziehungsweise Wahrnehmens maximal ausgeprägt (Dworkin, 2002, S. 258-260) und sie ist ebenso eine Praxis der latenten oder offenen Krisenhaftigkeit (Oevermann, 1996b). Hinzu kommt in (Übertragung des Plessnerschen Begriffs) die exzentrische Positionalität von Kunst bezüglich anderer Lebenspraxen, dass sie keine eigenständige Lebenspraxis ist, sondern sich auf andere Lebenspraxen bezieht und von diesen abhängt, während sie in Bezug auf die primären Lebenspraxen aber kritisches Potenzial hat (Bertram, 2014).

Es sollte anhand dieser Skizze deutlich geworden sein, wie eine Theorie der Sozialen Arbeit ethische und politisch-philosophische Aspekte impliziert und wie diese mithilfe der wissenschaftlichen Ressourcen der philosophischen Ethik genauer analysiert und die aufgeworfenen Frage- und Problemstellungen bearbeitet werden können, ohne dass dies hier schon geleistet worden wäre. Ebenso sollte die Bemühung um die konsequente Orientierung an den Frage- und Problemstellungen der Sozialen Arbeit und damit um das transdisziplinäre Paradigma erkennbar sein. Schliesslich legt die philosophische Ästhetik sogar methodische Ansätze zur Bearbeitung sozialer Probleme nahe.


Literatur

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Schumacher, Thomas. (2011). Die Soziale Arbeit und ihre Bezugswissenschaften. Stuttgart: Lucius und Lucius.

Zitiervorschlag:

Zdunek, André. (2021). Soziale Arbeit als Transdisziplin und die Bezugswissenschaften, Soziale Arbeit (Hrsg.), Theorielinienhttps://virtuelleakademie.ch/good-practice-beispiele/theorielinien/soziale-arbeit-als-transdisziplin-und-die-bezugswissenschaften/