Diskurstheorie
Macht und Wissen!
Soziale Ungleichheit wird häufig auf der individuellen oder strukturellen Ebene diskutiert: dass Menschen mit ungewohnten Nachnamen Hindernisse erfahren bei der Wohnungs- oder Stellensuche, oder dass im öffentlichen Raum nach wie vor unzählige Hürden bestehen für Menschen mit Beeinträchtigungen. Dass soziale Ungleichheit und Diskriminierung aber auch etwas mit Normen, Werten und Stereotypen zu tun haben, das lässt sich u.a. mit der Analyse von Diskursen nach Foucault verstehen. Die Untersuchung von Diskursen erhellt die Verbindung von Macht und Wissen und sensibilisiert für subtile Machtpraktiken auf der sogenannten Diskurs- oder Repräsentationsebene – eben jenseits individueller oder struktureller Macht.
Die Thematisierung von ungleichheitsgenerierenden Kategorien wie Geschlecht, Herkunft, Behinderung oder sexuelle Orientierung via Medien, Werbung oder Politik ist aus diskurstheoretischer Perspektive der Bauplan von Herrschaftsverhältnissen wie Rassismus, Sexismus oder Heteronormativität. Ausserdem dient diese Thematisierung der Rechtfertigungen genannter Verhältnisse, denn sie erscheinen auf diese Weise mit der Zeit als ‘natürlich’ und ‘normal’, ohne dass die innewohnende Ungleichheit noch sichtbar wäre. Demgegenüber macht Diskurstheorie deutlich, dass Herrschaftsverhältnisse beständig neu verhandelt, produziert und reproduziert werden und also auch historisch wandelbar sind. Vorstellungen vom ‘richtigen Leben’, von ‘Gut und Böse’, von ‘Mann oder Frau’, von ‘Sexualität’ (und, wie noch zu zeigen sein wird, von ‘sozialen Problemen’) werden in Diskursen geprägt – und diese Diskurse entfalten durch eben diese kollektive Sinnerzeugung ihre Macht: Der Diskurs «ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht.» (Foucault, zit. nach Sagebiel & Pankofer, 2015, S. 82). Jeder Diskurs, auch ein herrschaftskritischer oder emanzipativer, generiert eigenes Wissen und Macht, und produziert so zwangsläufig auch Ausgeschlossenes, Unsagbares und Verschwiegenes (Purtschert & Meyer, 2010, S. 135). Ein diskursanalytisches Verständnis schult das Auge für eine kritische, reflexive und selbstreflexive Position und fordert dazu auf, das eigene Wissen als historisch und kontingent (d.h. veränderlich bis zufällig) sowie in Verbindung mit Machtpraktiken einzuordnen.
Wissen und Normen im Wandel der Zeit
Der alltagssprachlich häufig verwendete Begriff Diskurs – lateinisch discurere, hin- und herlaufen – meint ein öffentlich diskutiertes Thema, eine Argumentationskette (z.B. Flüchtlingsdiskurs, neoliberaler Diskurs) oder auch einen organisierten Diskussionsprozess (Keller, 2011, S. 97). Foucault versteht unter Diskurs eine Verkettung von Aussagen oder eine sogenannte Formation oder Ordnung von Aussagen zum gleichen Thema (z.B. zum Thema Sexualität). Durch diese Formation von Aussagen wird die angebliche Realität nicht etwa nur beschrieben, sondern sie wird gleichsam hergestellt: Diskurse produzieren die Realität, von der sie sprechen. Damit bringen sie machtvolle Wahrheiten, Realitäten und Normalitäten – oder Abweichungen – zum entsprechenden Thema hervor. Macht ist also produktiv und unterwirft nicht nur, sondern bringt auch etwas hervor (Messerschmidt, 2012, S. 290).
Im Zentrum des theoretischen Interesses an Diskursen steht zunächst einmal das Verhältnis von Sprache, Wissen und Macht. Im deutschsprachigen Raum wird in der Regel zwischen zwei Diskurstheorien unterschieden: der normativen Diskurstheorie von Jürgen Habermas, dessen Theorie des kommunikativen Handelns1 auch als Diskursethik bekannt ist und v.a. im philosophischen Kontext diskutiert wird (vgl. Gesellschafts- und bildungstheoretisch begründete Sozialpädagogik und Offensive Sozialarbeit), und dem genannten analytischen Ansatz von Michel Foucault. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Diskurstheorie nach Foucault, die seit den 1970er-Jahren in den gesamten Geistes- und Sozialwissenschaften breit rezipiert und weiterentwickelt wird.
Der französische Philosoph, Psychologe und Historiker Michel Foucault (1926-1984) analysiert in seinem rund 25 Jahre währenden Schaffen bestehende und vergangene Diskurse mit dem Anspruch, dem Zusammenspiel von Diskursen, Wissen und schliesslich auch Macht auf die Spur zu kommen. Diskursanalyse im Foucaultschen Sinne hat eine erkenntnistheoretische Frage als Zentrum: Wie – und unter welchen Bedingungen – ist Erkenntnis möglich? Was sind Wissensphänomene und wie verläuft ihre historische Genese und Zirkulation im Sprachgebrauch? (Keller, 2011, S. 97). Diskursanalytische Forschung zeigt die diskursive Konstruktion von Wahrheit und Wirklichkeit auf und fragt, welches Wissen zu einem bestimmten Zeitpunkt gültig ist. Mit anderen Worten: Diskursanalysen legen Bedeutungs- und Konstruktionsmuster von Diskursen frei und machen deutlich, wie und was zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt überhaupt denk- und sagbar ist (und eben auch: was nicht sagbar ist). Konkret legt Foucault dies beispielsweise eindrücklich in Überwachen und Strafen (Surveiller et punir, 1977) anhand des Wandels der Bedeutung von Delinquenz, Strafe und Disziplinierung zwischen 1750 und 1850 dar. Mit Blick auf die Entwicklung der Strafsysteme wird anhand dieser Forschung sichtbar, wie dramatisch sich in dieser Zeit die Vorstellung davon, was eine angemessene Strafe ist, verändert hat. Auf die Gegenwart übertragen lässt sich aus der Position Sozialer Arbeit mit dieser Erkenntnis beispielsweise fragen, wie heutiges Wissen etwa über die «Resozialisierung» von sogenannt «Delinquenten» beschaffen ist. Was ist heute abweichendes Verhalten und wie wird es sanktioniert? Oder: Wie ist die Rolle des Staates zwischen Schutz, Hilfe, Erziehung und Bestrafung gegenwärtig ausgestaltet? Bewusst wird dadurch, wie stark sich Normen über das »richtige« Helfen und Disziplinieren historisch wandeln.
In Foucaults Schaffen folgte zwischen 1976 und 1984 das dreibändige Werk Sexualität und Wahrheit (Histoire de la sexualité), welches im Zuge der Diskussionen der 1968er-Generation um die sexuelle Befreiung aufzeigte, wie sich auch unser Wissen über Sexualität – und damit über sexuelle Normen – seit der Antike verändert hat. Mit seinen Schlussfolgerungen brüskiert Foucault allerdings linke Utopien, die durch Enttabuisierung der Sexualität deren Befreiung erwarteten. Stattdessen greift Foucault immer wieder die These auf, dass das, wovon wir vehement Befreiung erwarteten, uns nur tiefer in die Unterwerfung stürze (Messerschmidt, 2012, S. 291). Man renne nur erneut in die Falle der Macht, wenn man glaube, das neue Sprechen über das Sexuelle sei revolutionär und befreiend (Messerschmidt, 2012, S. 302). Anhand dieser und weiterer Studien, die Foucault in einem eigenwilligen, literarischen Stil verfasst und die als überaus scharfsinnig wahrgenommen werden, erlangt Foucault schnell akademische Berühmtheit. Er kann überzeugend verdeutlichen, wie umfassend gesellschaftliche Diskurse Wissen prägen und eine bestimmte Form von Macht entfalten. Damit leitet er einen Paradigmenwechsel in den Geistes- und Sozialwissenschaften ein.
Diskurstheorie oder –analyse?
Zwischen Diskurstheorie und -analyse ist keine scharfe Trennung möglich, die Begrifflichkeiten werden auch immer wieder unterschiedlich verwendet1. Tendenziell besagt die Diskurstheorie, dass die diskursive Produktion gesellschaftlicher Wissensordnungen bestimmten Regeln des Deutens und Handelns unterliegt, welche diskursanalytisch in den Blick genommen und rekonstruiert werden können. Foucault selbst findet erst über die akribische Analyse von Diskursen – für die er unzählige Archivbestände aufarbeitet und für die er auf die historischen Forschungsmethoden der Archäologie und Genealogie (Ahnenforschung) abstützt – zur Formulierung einer immer komplexeren Theorie der Diskurse. In diesem Sinne wird Diskursanalyse auch als Methodologie der Diskurstheorie bezeichnet. Foucaults Ansätze weiterentwickelnd, sind inzwischen verschiedene mikroanalytische, diskursanalytische Forschungsmethoden entstanden, die u.a. Techniken vorschlagen, wie einzelne Bestandteile von Diskursen konkret zu analysieren sind (z.B. der Analyseleitfaden zur Materialaufbereitung von Jäger, 2012). Diskursanalysen unternimmt man aber nicht, um Diskurse zu analysieren, wie es Rainer Diaz-Bone pointiert sagt. Vielmehr bestehe das Ziel darin, mit Hilfe der Rekonstruktion der diskursiven Praxis verschiedene Wirkungen, Effekte, Dynamiken oder soziale Prozesse durch die Diskursanalyse erklären zu können (Diaz-Bone 2015, S. 56).
Im deutschsprachigen Raum ist in den Sozial- und Geisteswissenschaften seit Mitte der 1990er Jahre ein wachsendes Interesse an und eine Weiterentwicklung diskurstheoretischer und diskursanalytischer Ansätze zu beobachten2. Zumeist mit explizitem Bezug auf Foucault, liegt das Erkenntnis- und Forschungsinteresse auch hier im Zusammenspiel von kollektiver Sinnerzeugung (Wissen) und gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Als Beispiel einer überaus lesenswerten Studie sei Die Krise der Jungen in Bildung und Erziehung von Susann Fegter (2012) genannt, in der sie aufzeigt, wie Buben in den Medien konstant als Bildungs- und Modernisierungsverlierer erzeugt werden.
Diskurse bilden die Gegenstände, von denen sie sprechen
Foucaults Theorieentwicklung geht zurück auf den strukturalistischen linguistic turn, die sprachkritische Wende der Wissenschaftstheorie seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Sprache wird seither nicht mehr als Mittel gesehen, um die Wirklichkeit zu erkennen und über diese Wirklichkeit zu kommunizieren. Stattdessen wird Sprache als systematische Struktur begriffen, die Erkenntnis erst ermöglicht (Strukturalismus). Sprache ist also überhaupt erst die Bedingung für das Denken und auch für das, was wir als ‘Wirklichkeit’ begreifen. Es gibt demnach keine Erkenntnis, keine Wirklichkeit und keine kulturellen Phänomene, die nicht bereits durch Sprache strukturiert sind.
Dem Strukturalismus zunächst noch eng verhaftet, sieht auch Foucault die menschliche Erkenntnis gebunden an sprachliche Strukturen, und auch aus diskurstheoretischer Sicht gibt es keine ausser- oder vordiskursive Realität. Bald erweitert der später als «Poststrukturalist» bezeichnete Foucault aber seinen Diskursbegriff und legt das Augenmerk auf Verkettungen von einzelnen Sprechakten zu umfassenderen Argumenten und Formationen. Er nimmt, wie oben beschrieben, die geschichtliche Entstehung und die den Diskursen innewohnenden Machtverhältnisse in den Blick und rekonstruiert minutiös, wie Diskurse «systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen» (Foucault 2015, S. 74), also das Wissen darüber, was etwa Sexualität, was Strafe, aber auch was ein soziales Problem ist. So zeigt Foucault das Selbstverständliche, Normale und Natürliche als gesellschaftlich produziert und historisch kontingent (d.h. veränderlich bis zufällig). In diesem Sinne ist Diskursanalyse auch im Sozialkonstruktivismus zu verorten, zeigt sie doch die diskursive Konstruktion und Naturalisierung von Wirklichkeit auf. Vermeintlich objektives Wissen wird erkennbar als lediglich objektiviertes Wissen einer bestimmten Zeit, als legitim anerkanntes Wissen. So wird zum Beispiel das Ankommen von Flüchtenden zu einer «Flüchtlingswelle», weil als solche von ihr gesprochen wird (im Sinne einer Bedrohung, einer Welle, einer Unausweichlichkeit ähnlich einer Naturkatastrophe) und der Diskurs mit entsprechenden Fakten gefüttert wird. Ebenso könnte von veränderter Zuwanderung, von dringendem Aufnahmegebot oder von anderen Deutungen die Rede sein. Diese Kontingenz zeigt sich auch gut nachvollziehbar in der immer wieder veränderten Vorstellung, was Männer oder Frauen ausmacht resp. was unter Männlichkeit oder Weiblichkeit zu verstehen ist.
Vom Diskurs zum Dispositiv
Später geht Foucault mit der Konzeption des weniger geläufigen Begriffs Dispositiv noch einen Schritt weiter. Dispositive gehen über das Sprachliche der Diskurse hinaus und sind weiterreichende, sozusagen noch effektvollere Herrschaftsinstrumente: Verbindungen aus Diskursen, aber auch Institutionen und Praktiken und Strategien, um Überzeugungen hervorzubringen und zu regulieren. So haben etwa sonderpädagogische Institutionen eine bestimmte und wichtige Funktion innerhalb des Dispositivs «Behinderung»: durch soziale Beziehungen, professionelle Standards oder den Bau ganz bestimmter Gebäude materialisieren und regulieren diese Institutionen die veränderbare Wissensordnung darüber, was «Behinderung» zu einem bestimmten Zeitpunkt ist und sein soll. Es werden also spezielle Orte geschaffen, die Wahrheiten über Behinderung, Wahnsinnige, Kranke und Gesunde, Kinder und Erwachsene, Frauen und Männer produzieren (Messerschmidt 2012, S. 290). Auch hier hilft die historische Perspektive dem Verständnis: «Irrenanstalten» des 19. Jahrhunderts mit der Strategie der Verwahrung materialisierten andere Dispositive über psychische Krankheit als heutige psychiatrische Kliniken. Foucault betrachtet Dispositive auch als Ergebnisse von Institutionalisierungsprozessen, in denen sich Wissen und Macht als Einrichtung einer Anstalt manifestieren – Gefängnisse, Schulen, Psychiatrien, Krankenhäuser bilden solche „Dispositive der Macht“ (Messerschmidt 2011, S. 301).
Im Verlaufe seiner Studien zeigt Foucault auf immer präzisere Weise die Abhängigkeit der Wahrheit und der Wissensproduktion von denjenigen (aktuellen) Macht- und Legitimationsmechanismen, welche regeln, was gerade erkannt werden kann und was nicht:
«Die Wahrheit ist von dieser Welt; in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre ‚allgemeine Politik‘ der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren läßt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder anderen sanktioniert werden; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht.» (Foucault, 1978, S.51)
Was ist das Subjekt, was ein soziales Problem, und was hat Diskurstheorie mit Sozialer Arbeit zu tun?
Zunehmend entwickelt Foucault auch seine eigene Konzeption des Subjekts und interessiert sich dafür, wie sich durch Diskurse und Dispositive Subjekte produzieren und produziert werden. Die Herstellung von Wissensordnungen, die garantieren, dass ein Verhalten bewertet werden kann (z.B. als normal und nicht normal), bringt er nun in engen Zusammenhang mit der Hervorbringung des Subjekts: Sie sind die Bedingung für sinnhaftes Sprechen und Handeln und für das Verständnis der Einzelnen von sich selbst. In diesem Sinne ermöglichen Diskurse erst die «Subjektivation», wie Judith Butler dies im Anschluss an Foucault ausformuliert (2001). Foucault bricht damit mit der Vorstellung des Subjekts mit einem ‘wahren’ Kern, das sich autonom, selbstbestimmt und frei von Wissens- und Wahrheitsdiskursen behaupten kann; der Bezug auf Diskurse erweist sich vielmehr als ganz zentraler Moment der Subjektwerdung. In der Konsequenz ist somit auch das Subjekt historisch kontingent und stets ‘neu gemacht’ – eine zum essentialistischen Begriff des souveränen Subjekts radikal andere und ambivalentere Konzeption. Ambivalent in dem Sinne, als das Subjekte den Wissensordnungen, Normen und Werten (und den darin innewohnenden Herrschafts- und Machtverhältnissen) einer Zeit einerseits ausgesetzt und unterworfen sind, sie andererseits aber auch transformieren und den Diskurs selbst beeinflussen können. Plausibel wird dieser Zusammenhang oder diese Ambivalenz zum Beispiel anhand von Beratung im Handlungsfeld Sozialer Arbeit, in der sich Macht- und Wissensformationen mit den Praktiken des Selbstbezugs des Einzelnen verschränken und so aus Menschen Subjekte machen (Duttweiler 2007, S. 262).
Diskurstheorie als Theorie in der Sozialen Arbeit
Diskurstheorie und -analyse ist für Soziale Arbeit von Interesse, nicht nur, weil sich Foucault in seinen Arbeiten immer wieder dafür interessiert, was an den Rändern der Gesellschaft geschieht, wie diese Ränder organisiert sind und verwaltet werden und was Gesellschaften von sich ausschliessen wollen (Messerschmidt, 2012, S. 291). Aufgegriffen werden in Sozialer Arbeit vor allem diskurstheoretische Perspektiven (Griese, 2013, S. 295), in Abgrenzung zur geringeren, aber wachsenden Zahl diskursanalytischer Ansätze im Sinne von Forschungszugängen empirischer Arbeiten der Sozialen Arbeit (Kessl, 2012, S. 158; Anhorn et al., 2007). Anschlussfähigkeit zeigt sich auf verschiedenen Ebenen: Zunächst ist Soziale Arbeit immer mit ethischen Fragestellungen und damit mit Normen und Werten konfrontiert. Diskurstheoretische Ansätze sind dabei einerseits als Rüstzeug zu verstehen, die normativen Konzepte offenzulegen, innerhalb derer Sozialer Arbeit agiert. Gleichzeitig wird Soziale Arbeit aus diskurstheoretischer Perspektive sichtbar als Teil gesellschaftlicher Diskurse und kann sich die Frage stellen, inwieweit sie selbst beteiligt ist an der (Re-)Produktion von Werten, Normen und bspw. Dispositiven wie Soziale Sicherheit. Inwieweit ist Soziale Arbeit in aktuelle Herrschaftsverhältnisse verwoben, etabliert und erhält diese, während «sie im Kampf um Gerechtigkeit und in Vertretung der Schwächeren diese auch immer wieder anficht»? (Thiessen, 2013, S. 188)
Ausserdem zeigt Diskurstheorie wichtige Bezugspunkte Sozialer Arbeit – wie das ‘Menschenbild’ oder den ‘Gegenstand’ Sozialer Arbeit – als soziale Konstruktionen und erlaubt, diese Bezugspunkte «nicht als ‘naturgegeben’ und somit unveränderlich, sondern als in Diskursen durch kollektive, interessengeleitete Akteure konstruiert zu begreifen» (Bettinger, 2013, S. 88). Ob sich Soziale Arbeit eher über Kontrolle, Hilfe oder Aktivierung definiert, entscheidet sich entlang gesellschaftlicher und professioneller Normen. Ebenso verhält es sich mit der Frage, was überhaupt in den Zuständigkeitsbereich Sozialer Arbeit fällt: Ist es «Liederlichkeit», «Verwahrlosung» oder bspw. «Desintegration»? Von professionstheoretischer Seite wird daher zunehmend gefordert, sich in der Sozialen Arbeit noch vertiefter mit diskurstheoretischen Perspektiven zu befassen (vgl. Bettinger, 2013, Heite, 2008; Kessl, 2014, Kessl & Plösser, 2010).
Auch theoretische Erwägungen zum Subjekt, die eine machtanalytische, gesellschafts- und normenkritische Perspektive einnehmen, wurden in Sozialer Arbeit ausgearbeitet (vgl. Anhorn, Bettinger & Stehr 2007; Heite, 2008; Dollinger et al., 2012; Thiessen, 2013). So sieht Catrin Heite Subjekte im Anschluss an Foucualt als durch «Effekte von hegemonialen Diskursen innerhalb normativer Strukturen» konstituiert (2008, S. 104) und erteilt Sozialer Arbeit als subjektorientierter Anerkennungsarbeit mit dem Ziel subjektiver Autonomie und vollständiger Identitätsbildung eine Absage, weil diese die Ambivalenzen von Subjektivierung und Autonomie ausblende (ebd., S. 103). Vielmehr sollen Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit weder als passive Empfängerinnen und Empfänger, noch als autonome, souverän Handelnde gesehen werden, sondern es wird die Verschränkung und Ambivalenz von Autonomie und Abhängigkeit des Subjekts postuliert. In Sozialer Arbeit wird diese Perspektive häufig auch verbunden mit machtkritischen Fragen zu Formen der Disziplinierung, Regierung und «Gouvernementalität» (Duttweiler, 2007; May, 2010, S. 168).
Wie Messerschmidt für die Pädagogik herausarbeitet, ist diese zudem selbst einer jener Wissen-Macht-Komplexe, aus denen Subjekte erst hervorgehen (Messerschmidt 2012, S. 290). Der Zusammenhang von Wissenschaft und Praxis in der Pädagogik, also die Generierung von Wissen zum Zweck des Einwirkens auf Subjekte, bringe eine moderne Machtformation zum Ausdruck, so Messerschmidt. In Institutionen wie der Schule würden Normalitäten verhandelt, das, was eine Gesellschaft zu integrieren beanspruche und was sie organisieren müsse (ebd., S. 290).
Diskurstheoretische Ansätze nach Foucault bieten insgesamt also eine gute Grundlage für reflexive Perspektiven im Kontext Sozialer Arbeit. Auch wenn sie professionelle Handlungen nur indirekt konkret anleiten können, werden ihnen Praxisrelevanz beschieden: «Die Relevanz eines kritischen Diskursbewusstseins zeigt sich kontinuierlich in den täglichen sozialarbeiterischen bzw. sozialpädagogischen Praxen, in denen Professionelle sich mit medialen und/oder politischen Erzählungen und daraus resultierenden Arbeitsaufträgen konfrontiert sehen» (Bettinger, 2013, S. 97).
Diskurstheorie als Theorie über die Soziale Arbeit
Michael Winkler hat 1988 Eine Theorie der Sozialpädagogik vorgelegt, in der er ihren Gegenstand als nie endenden Diskurs darüber bestimmt, was Sozialpädagogik ist. Angelehnt an die Überlegungen von Foucault und Ernesto Laclau, legt Winkler dieser Perspektive die These zugrunde, dass Sozialpädagogik nicht beobachtbar, sondern nur über theoretische Reflexion bestimmbar sei. Damit wird der Diskurs und die Reflexion darüber, wie Probleme gesellschaftlicher Ausgrenzung zu lösen sind, das eigentliche Objekt der Theoriebildung, nämlich einer Diskursanalyse des Sprechens über Sozialpädagogik. Diese Analyse ermögliche es ausserdem, so Winkler, die zu einer Theorie der Sozialpädagogik zugehörenden Themenbereiche «sozialpädagogisches Problem» und «sozialpädagogisches Handeln» zu umklammern (Winkler, 1988, S. 95).
Der sozialpädagogische Diskurs besteht nach Winkler aus «tradierten und konventionalisierten ‘Theorieelementen’, sowie aus Erfahrungs- und Alltagswissen» (1988, S. 24). Erst durch die Reflexion im Diskurs werden soziale Probleme, Institutionen und Handlungen zu sozialpädagogischen Realitäten. Sozialpädagogik liesse sich deshalb «nur als ein durch Wissen […] und Semantik konstituiertes und organisiertes System sozialer Praxis begreifen» (zitiert nach May, 2009, S. 188). Im sozialpädagogischen Diskurs identifizierten und interpretierten sich
«(…) die an sozialer Arbeit Beteiligten selbst, die Probleme ihrer Tätigkeit und ihr Handeln (…). Sie nehmen Sinnzuschreibungen vor, mit welchen sie vor dem Hintergrund eines historisch entstandenen, in seinen Wurzeln durchaus heterogenen, durch Tradition dann zunehmend gesicherten, schliesslich auch durch didaktische Zwänge in Kohärenz gebrachten, ‘professionellen’ Selbstverständnisses eine Ordnung nicht zuletzt auch zur reflexiven Selbstvergewisserung erhalten.» (Winkler, 1988, S. 30)
Der Diskurs binde also das Wissen vom sozialpädagogischen Handeln, das den Beteiligten für ihre Praxis zur Verfügung stehe. Handlungen würden erst dann zu sozialpädagogischen Handlungen, wenn sie «zum Referenzobjekt einer sie in ihrem Sinn bestimmenden Auseinandersetzung im sozialpädagogischen Diskurs werden» (ebd., S. 30).
Aufbauend auf Herman Nohl, entwickelt Winkler sieben «Energien», die den sozialpädagogischen Diskurs historisch strukturieren: das Theologische Motiv, das Strafmotiv, das Arbeitsmotiv, das Fürsorgemotiv, das Pflege- und Heilmotiv, das politische Motiv und das Erziehungsmotiv der pädagogischen Philosophie (ebd., S. 246 ff). Zentrale theoretische Begriffe zur Reflexion des sozialpädagogischen Diskurses sind zudem Subjekt und Ort; sie gelten als die den sozialpädagogischen Diskurs organisierende „grundlegende Reflexionsoperatoren“ (ebd., S. 267). Der Begriff des Subjekts lenke den Blick auf die Menschen, mit der es die Sozialpädagogik zu tun habe, und die sich im Verhältnis zur Welt sowohl als bedingt als auch als bedingend erfahren. Der Begriff des Ortes verweise darauf, dass sich sozialpädagogisches Handeln letztlich an der Bereitstellung eines Ortes resp. eines Raumes realisiere. Sozialpädagogik ziele darauf, über die Existenzsicherung hinaus Lebensbedingungen zu schaffen, die Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen. Winkler macht für die Sozialpädagogik ausserdem die Verpflichtung aus, sich mit politischen Trends auseinanderzusetzen, diese kritisch auf die Konsequenzen für Erziehung und Bildung hin zu untersuchen und die Sozialpädagogik in einen Vorgang gesellschaftlicher Veränderung münden zu lassen (Lambers, 2016, S. 124).
Winklers Theoriebildung wird in theorie-systematischen Modellen Sozialer Arbeit häufig diskursanalytischen (May, 2009), zuweilen im gleichen Atemzug aber auch bildungstheoretischen Ansätzen zugeordnet (Lambers, 2016; Füssenhäuser, 2011). Augenfällig sind sicher Winklers zahlreiche Bezüge zur Hermeneutik, zur Transzendentalphilosophie, zur Kritischen Theorie und zu systemtheoretisch-konstruktivistischen Sichtweisen (Lambers, 2016, S. 126 ff). Dennoch wird bei Winkler deutlich, wie gewinnbringend der Diskursbegriff in die Theoriebildung eingebracht werden kann und wie fruchtbar es ist, Sozialpädagogik historisch-analytisch zu umreissen.
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