Flexibles Lernen umsetzen
Visualisierung von Evelyn Kraft
Generelles
Digitalisierung, Globalisierung und demografischer Wandel führen in vielen Lebensbereichen zu mehr Individualisierung und Flexibilisierung. Auch in der Hochschulbildung werden Flexibilisierung und Individualisierung vermehrt berücksichtigt, um Studierenden mit ihren individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen lebenslanges Lernen zu ermöglichen.
Die «Strategie Lehren und Lernen im digitalen Zeitalter» trägt dieser gesellschaftlichen Entwicklung im Handlungsfeld «Vielfalt» Rechnung. Das erste Ziel «Flexibilisierung der Curricula» fokussiert die Förderung flexiblen Lernens. Da flexibles Lernen erhöhte Anforderungen an die Studierenden stellt, folgt als zweites Strategieziel «Individuelle Unterstützung und Begleitung im Lernprozess».
Flexibilisierung und Individualisierung sind Antworten auf die Vielfalt der Studierenden und gleichzeitig Kern einer studierendenzentrierten Lehr-/Lernkultur, die sich nicht nur auf Inhalte ausrichtet, sondern die Studierenden mit ihren Kompetenzen und Bedürfnissen ins Zentrum stellt (siehe Leitlinien Lehre, BFH).
Ziel dieser Einführung ist es,
- zentrale Begriffe zu klären,
- Chancen und Herausforderungen von Flexibilisierung und Individualisierung zu verdeutlichen,
- Optionen für Flexibilisierung bzw. Individualisierung aufzuzeigen und Hilfen für die Curriculum- und Modulentwicklung zu bieten.
Was ist flexibles Lernen?
Flexible Lernangebote ermöglichen Studierenden, selbst zu entscheiden, was, wann, wie und wo sie lernen, sodass sie ihre Aus- und Weiterbildung ihrem individuellen Lebenskontext anpassen und mehr Verantwortung für ihren Lernprozess übernehmen können (HEA 2015; Müller 2019). Häufig wird flexibles Lernen mit orts- und zeitunabhängigem Lernen, also mit E-Learning oder Distance Learning gleichgesetzt (Müller 2019). Doch kann sich flexibles Lernen auf weit mehr Aspekte beziehen: Nach der Definition von Chen (2003) spricht man von flexiblem Lernen, wenn mindestens einer der folgenden Aspekte Flexibilität aufweist: Zeit, Ort, Lerngeschwindigkeit, Lernstil, Inhalt, Assessment, Lernpfad.
Was ist individualisiertes Lernen?
Lernprozesse sind immer individuell. Persönlichkeit, Begabung, Lernfähigkeit, Vorwissen und Erfahrungen sind bei jedem Menschen anders ausgeprägt und machen deshalb jeden Lernprozess einzigartig. Daneben unterscheiden sich Lernende durch Ressourcen, die sie für ihr Lernen einsetzen (können), durch ihre Ziele und ihre Motivation. Unter individualisiertem Lernen versteht man, Studierende mit ihren Stärken und Entwicklungsbedürfnissen individuell in den Blick zu nehmen und zu fördern. Individualisiertes Lernen zu unterstützen, bedeutet also Lernprozesse zu ermöglichen, die möglichst individuell an Lernvoraussetzungen angepasst sind und dabei Lernen möglichst individuell zu begleiten (Lipowsky, 2016).
Wie unterscheidet sich flexibles und individualisiertes Lernen?
In der Praxis ist flexibles und individualisiertes Lernen häufig deckungsgleich: Wenn Studierende z.B. die Möglichkeit haben, interessengeleitet eine inhaltliche Vertiefung zu wählen, so entspricht dies sowohl flexiblem (Dimension «was» bzw. «Inhalt») als auch individualisiertem Lernen. Wenn sie ihren Lernweg wählen können, ist dies ebenso individualisiertes wie flexibles Lernen (Dimension «wie»).
Beide Konzepte bedeuten die Abkehr vom «one size fits all»-Prinzip und zielen darauf, Lehren und Lernen den individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen bestmöglich anzupassen durch entsprechende organisatorische und/oder didaktische Gestaltung. Dabei bedeuten beide Konzepte keineswegs Einzellernen, sondern können (und sollen) auch Lernsettings in Gruppen und Peer-Lernen beinhalten. Individualisiertes Lernen fokussiert die individuellen Lernvoraussetzungen sowie die individuelle Förderung und Begleitung von Lernprozessen. Flexibles Lernen geht darüber hinaus und bezieht auch organisatorische sowie institutionelle Aspekte (Zertifizierung, Akkreditierung) mit ein (Jahn, 2008).
Da individualisiertes und flexibles Lernen starke Überschneidungen aufweisen, flexibles Lernen aber weitergeht, werden die beiden Lernformen im Folgenden und an der BFH unter dem Begriff «flexibles Lernen» zusammengefasst.
Gründe und Chancen für flexibles Lernen
Um in der VUCA-Welt [Akronym für volatility, uncertainty, complexity, ambiguity] bestehen zu können, bedarf es mehr denn je lebenslang zu lernen.
Das klassische Modell der Hochschulbildung, geprägt von einem direkten Übergang von der Ausbildung bzw. Schule zur Hochschule und anschliessender Erwerbstätigkeit im gleichen Beruf, wird seltener. Stattdessen werden Um- und Neuqualifizierungen immer wichtiger, auch in späteren Lebensphasen – neben Berufstätigkeit oder während Familienphasen.
Zielgruppen von Hochschulbildung werden also vielfältiger. Damit unterscheiden sich auch die Studierenden in einer Lehrveranstaltung stärker voneinander: Sie bringen vermehrt unterschiedliche Hintergründe, Voraussetzungen, Erfahrungen, Kompetenzen, Ressourcen, Ziele und Motivation mit.
Flexibles Lernen hat zum Ziel, Hochschulbildung auch Zielgruppen zugänglich zu machen, die sich nicht in Vollzeit einem Studium widmen können und dieses stärker an individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen auszurichten. Flexibles Lernen verspricht mehr Freiheiten, verlangt jedoch von Studierenden, mehr Verantwortung für ihren Lernprozess zu übernehmen. Dies gilt es anzuleiten und zu unterstützen. Mit Flexibilisierung werden zugleich wichtige Impulse zur Förderung von «Future Skills» gesetzt, wie Organisation, Lernen, Selbstregulierung, beim Einsatz kollaborativer Methoden auch Diversität, Kollaboration, Kommunikation, Vernetzung (vgl. Future Skills fördern).
Herausforderungen
Flexibles Lernen hat nicht automatisch eine Verbesserung der Qualität von Lernprozessen zur Folge. Im Gegenteil, es ist zunächst einmal anspruchsvoll und bringt zusätzliche Herausforderungen mit sich: Entscheidungen, die in anderen Settings von Lehrenden getroffen werden, stehen den Studierenden beim flexiblen Lernen zur Wahl bzw. müssen selbst organisiert werden.
Studierende steuern und verantworten Aspekte des Lernens selbständig, sie sind folglich in Selbstorganisation, Selbstregulation und Selbstverantwortung stärker gefordert – gleichzeitig werden diese Fähigkeiten auch stärker gefördert.
Beim orts- und zeitunabhängigen Lernen (Dimension «wann» und «wo») kommt hinzu, dass soziale Begegnungen sowohl zwischen Dozierenden und Studierenden wie auch zwischen Studierenden eingeschränkt sein können, was den Lernprozess, das Lernklima bzw. die Motivation beeinträchtigen kann. Hier muss organisatorisch und didaktisch bewusst gegengesteuert werden, um dennoch qualitativ hochwertige Lernprozesse zu erreichen, etwa durch den vermehrten Einsatz kollaborativer Methoden, durch die Einführung modulübergreifender Lerntandems und Lerngruppen oder durch Aufgaben mit Meilensteinen und Coachings sowie Sprechstundenangebote. Allerdings schränken derartige Massnahmen die durch orts- und zeitunabhängiges Lernen gewonnene Flexibilität wieder ein.
Damit wird deutlich, dass flexibles Lernen durchaus seinen Preis (Chen, 2001) hat und nicht zum «Nulltarif» (Röbken, 2012) zu haben ist – nicht nur in dem Sinn, dass Flexibilisierung in einem Bereich stärkere Strukturierung in anderen Bereichen nach sich ziehen kann, es ist auch mit (teilweise erheblichen) Mehrkosten verbunden (Chen, 2001; Müller 2016).
Didaktischer Umgang mit Vielfalt
Wie oben dargelegt, antwortet Flexibilisierung auf die Vielfalt der Studierenden. Kerres (2012) unterscheidet aus didaktischer Sicht zwei grundlegend unterschiedliche Ansätze, um individuelle Unterschiede zu berücksichtigen: den «kompensatorischen» und den «expansiven» Ansatz (in Anlehnung an Holzkamp).
Beim «kompensatorischen» Ansatz werden Unterschiede als Defizite wahrgenommen und Massnahmen ergriffen, um Homogenität herzustellen. Dazu zählen Brücken- und Vorkurse, Tutorien, u.a. auch Angebote zur gezielten Förderung von Kompetenzen für die Studierfähigkeit sowie Beratungs- und Betreuungsangebote, die zum Ziel haben, Studierende bei Lernschwierigkeiten, bei der Orientierung und Planung ihres Studiums zu unterstützen.
Der «expansive» Ansatz versucht nicht, Unterschiede zwischen den Studierenden zu nivellieren, sondern diese als aktive Ressource für den Lernprozess zu nutzen und die Entfaltung der Studierenden zu stärken. Dies kann z.B. erreicht werden über Kollaboration, also Gruppenarbeiten, die nicht arbeitsteilig erledigt werden, sondern echte Zusammenarbeit erfordern und damit den Austausch von Perspektiven, Erfahrungshintergründen, das Einbringen unterschiedlicher individueller Kompetenzen und das Peer-Lernen begünstigen. Auch Differenzierung ist ein Weg, um die individuellen Potenziale von Studierenden zu fördern, also z.B. durch Wahlmöglichkeiten aller Art (Ziele, Inhalte, Lernweg).
Auch müssen Themen für Projekt- oder Semesterarbeiten nicht aus einem vorgegebenen Pool gewählt werden, sondern können nach individuellen Interessen eigenständig entwickelt werden. So können die Studierenden individuelle Erfahrungen, Interessen und Kompetenzen einbringen. Mentoring oder Coaching, bei denen Studierende in ihrer Entwicklung gezielt gefördert werden, entsprechen ebenfalls dem «expansiven» Ansatz.
Das bedeutet nicht, dass der expansive Ansatz vorzuziehen und der kompensatorische zu vermeiden wäre. Es gilt genau zu analysieren, wo homogene Vorkenntnisse für Lernprozesse unerlässlich sind und wo Vielfalt und individuelle Unterschiede genutzt und gefördert werden können.
Fazit
Unbestritten ist, dass von Hochschulen in Zukunft vermehrt flexible Bildungsangebote erwartet werden. «Viel hilft viel» – für flexibles Lernen trifft dies nicht zu. Genauso wie ein Studium zu wenig, kann es auch zu viel Flexibilität aufweisen und dadurch überfordern bzw. schwer studierbar sein.
Flexibilisierung ist nicht als Ziel zu sehen, sondern als Mittel, um Studierenden zu ermöglichen, ihr Lernen ihren Bedürfnissen anzupassen und dadurch die Qualität von Lernprozessen zu verbessern. Dabei sollte flexibles Lernen umsichtig austariert werden zwischen den Bedürfnissen der aktuellen und zukünftigen Zielgruppe auf der einen Seite und den Bildungszielen des Studienprogramms sowie den Ressourcen, die für die Implementierung von Flexibilisierung zur Verfügung gestellt werden können, auf der anderen Seite.
Welcher Grad an Flexibilisierung und Individualisierung dabei für ein Studienangebot sinnvoll und angemessen ist und welche Dimensionen dabei auf welchen Ebenen adressiert werden sollen, ist abhängig von verschiedenen Variablen (Naidu, 2017), z.B. Fach, Studienstufe, Vorkenntnissen, Erfahrungen, Ressourcen, Semester, Wohnort und Lebenssituation der Studierenden und Lehrenden, Bedürfnis nach und Bereitschaft für flexibles Lernen, Unterstützungsangebote für flexibles Lernen.
Baukasten flexibles Lernen
Quellen
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Röbken, H. (2012) Flexibilität im Studium: eine kritische Analyse. In: Kerres, M./Hanft, A./ Wilkesmann, U./Wolff-Bendik, K. (Hrsg.): Studium 2020. Positionen und Perspektiven zum lebenslangen Lernen an Hochschulen. S. 243-248 https://www.researchgate.net/publication/289202258_Studium_2020_Positionen_und_Perspektiven_zum_lebenslangen_Lernen_an_Hochschule
Lizenz:
“Flexibles Lernen umsetzen” von Virtuelle Akademie / BFH, April 2022, lizenziert unter CC BY-SA 4.0 International