Lebensweltorientierte Soziale Arbeit

Version vom: 22.10.2021

Lebensweltorientierte Soziale Arbeit fragt danach, wie Menschen ihren Alltag erleben, und versucht, diesen Alltag zu verstehen. Dabei stellt sich Alltag einerseits als bereits vorhanden und durch die Einzelnen sowie die Gesellschaft vorinterpretiert dar, andererseits aber auch als veränderbar. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit zielt darauf ab, Adressatinnen und Adressaten dahingehend zu befähigen, zu einem gelingenderen Alltag zu gelangen.


Alltag / Alltägliche Lebenswelt / Alltäglichkeit

Der Bezug auf Alltag meint nicht – wie es ja immer wieder unterstellt wird – den Rückzug und die Beschränkung auf die vermeintlich trivialen Alltagsselbstverständlichkeiten, sondern die Frage nach den Strukturen des Alltags, die darin liegenden Eigensinnigkeiten und Probleme und ihre heutige gesellschaftliche Bedeutung. Alltägliche Lebensverhältnisse werden verstanden als zentrale und elementare Dimension, in der Menschen ihr Leben erfahren und gestalten, als Medium, in dem sie ihre primären Aufgaben, ihr Selbstverständnis, ihre Identität finden. (Grunwald & Thiersch, 2016, S. 31–32)

Gegenstand des Konzepts der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit ist die Orientierung am Alltag, beziehungsweise der Lebenswelt der Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit (Grunwald & Thiersch, 2018a, S. 304). Die drei Begriffe Alltag, alltägliche Lebenswelt sowie Alltäglichkeit sind im Konzept der Lebensweltorientierung zentral. Die Begriffe „Alltag“ und „alltägliche Lebenswelt“ werden synonym verwendet (Thiersch, 1992, S. 6). Alltag und alltägliche Lebenswelten stellen Orte dar, in denen das Leben von Menschen stattfindet. Dies kann beispielsweise das Quartier sein, in dem ein Mensch sich bewegt, die eigene Familie oder auch das berufliche Umfeld sowie Freizeitaktivitäten. Die Alltäglichkeit wiederum nimmt auf, wie man sich vor Ort verhält, wie man agiert. Sie beschreibt entsprechend, welche Bewältigungsstrategien ein Mensch vollzieht, um in der alltäglichen Lebenswelt bestehen zu können (Grunwald & Thiersch, 2018a, S. 304). Dieses Zurande kommen mit den täglichen kleinen und grossen Aufgaben des Lebens ist immer daran geknüpft, Entscheidungen zu treffen und tätig zu sein. Alltägliche Lebenswelt und Alltäglichkeit ist das, was einem Menschen bekannt ist. Der Mensch hat sich Abläufe und Routinen zurechtgelegt und ist dank diesen in der Lage, effizient zu handeln und Entscheidungen zu treffen. Andererseits engen diese Routinen auch ein und können behindernd wirken (Thiersch, 1978, S. 14–15).

Das Ziel einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit ist der gelingendere Alltag der Adressatinnen und Adressaten. Hierbei setzt sie nach dem Verständnis der Hilfe zur Selbsthilfe an und befähigt die Adressatinnen und Adressaten, bestehende Routinen und enge, behindernde Lebensverhältnisse zu verändern oder neue Möglichkeiten von Bewältigungsmuster kennenzulernen und anzuwenden (Thiersch, Grunwald & Köngeter, 2012, S. 178). Lebensweltorientierte Soziale Arbeit fragt entsprechend danach, „wie Menschen in den Bedingungen ihrer Lebenslage in ihrem Alltag zurande kommen, wie sie sich auf der Bühne der alltäglichen Bewältigungsaufgaben in den ihnen gegebenen Lebensstrukturen bewegen, auch um von da aus zu Fragen der Veränderung ihrer Verhältnisse zu kommen“ (Thiersch, 2016, S. 19).

 

Rekonstruktion der Lebenswelt

Eine lebensweltorientierte Soziale Arbeit stellt zunächst die Frage, wie die alltägliche Lebenswelt einer Adressatin oder eines Adressaten aussieht. Diese Frage untersucht, welche individuelle Bedeutung ein Mensch seiner Lebenswelt gibt, wie er sie interpretiert und darauf bezogen handelt. Die Rekonstruktion dieser Lebenswelt geschieht aus fünf Perspektiven. Diese fünf Zugänge ergeben sich aus den Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien, die die theoretische Basis der Lebensweltorientierung bilden.

  1. Die phänomenologische Perspektive zielt auf die Beschreibung des Alltages: „Die alltägliche Lebenswelt ist strukturiert durch die erlebte Zeit, den erlebten Raum und die erlebten sozialen Bezüge; in ihr wird pragmatisch Relevantes von Nicht-Relevantem unterschieden; Interpretationen und Handlungen gerinnen zu Alltagswissen und Routinen.“ (Thiersch et al., 2012, S. 183) Die Adressatinnen oder die Adressaten werden in ihrer eigenen Wirklichkeit wahrgenommen. Es wird nach ihrer erlebten Wirklichkeit, die diesen Alltag strukturiert, gefragt – konkret nach ihrem erlebten Raum, ihrer erlebten Zeit und ihren erlebten Beziehungen.
     
    Der erlebte Raum ist jener Raum, der einem Menschen zugänglich ist und den er gestalten kann. Der Raum erhält aufgrund der darin erlebten Ereignisse und Begegnungen für den Menschen eine eigene, einzigartige Bedeutung. Dieser Raum kann beispielsweise der eigene Wohnraum sein, der einem vertraut ist und von dem man das Gefühl hat, dass er einen gegen äussere Unannehmlichkeiten schützt. Allerdings kann dieser Raum auch als einengend oder nicht verfügbar erlebt werden, wenn beispielsweise kein eigenes Zimmer vorhanden ist, in das man sich zurückziehen kann. Der erlebte Raum kann auch das Dorfzentrum sein, in dem man sich der Beurteilung durch andere Menschen ausgesetzt fühlt, oder aber das eigene Quartier, in dem man sich sicher und aufgehoben fühlt.
     
    Die erlebte Zeit ist jene, die man selbst gestaltet und einteilt. Es kann die vergangene Zeit sein, die einen mit positiven oder negativen Erfahrungen geprägt hat. Auch kann es die gegenwärtige Zeit sein, die als zu strukturiert oder zu unstrukturiert erlebt werden kann. Ebenso kann es die zukünftige Zeit sein, der man aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen ängstlich gegenübersteht. Die erlebte Zeit zeichnet sich, wie auch der erlebte Raum, dadurch aus, dass sie für die Einzelne oder den Einzelnen eine spezifische Bedeutung hat.
     
    Die erlebten Beziehungen sind ebenfalls durch die Bedeutungen geprägt, die sie für die Einzelnen haben. Beziehungen können unterstützend und als Ressource wahrgenommen werden. Ebenso können Beziehungen als belastend erlebt werden und mit Spannungen verbunden sein. Eine Beziehung kann zudem sowohl als unterstützend und zugleich auch als belastend erlebt werden (Füssenhäuser, 2005, S. 166; Grunwald & Thiersch, 2018a, S. 304–305).
    In dieser Struktur erlebter Zeit, erlebten Raums und erlebter Beziehungen versucht der Mensch sein Leben und die Aufgaben, die an ihn herangetragen werden, zu bewältigen. Dies tut er einerseits, in dem er sich Routinen angewöhnt. So muss er in seinem Alltag nicht ständig nachdenken oder entscheiden, sondern kann einfach handeln. Dies können kleinere Alltagshandlungen sein, beispielsweise die Körperpflege oder die Bewältigung des Arbeitsweges. Dabei müssen verschiedene Entscheidungen getroffen werden, beispielsweise die Wahl des Zuges oder des Sitzplatzes. Müsste jede dieser Überlegungen täglich neu entschieden und durchgedacht werden, wäre dies äusserst zeitraubend und anstrengend. Zudem legt sich der Mensch einen Pragmatismus zu, mit dem er sein Leben zu bewältigen versucht. Die pragmatischen Handlungen werden danach beurteilt, ob sie von Nutzen sind und dabei helfen, eine Aufgabe zu bewältigen. Die Routinen und das pragmatische Handeln ermöglichen einem Menschen, das Leben überhaupt zu meistern. Sie geben Sicherheit sowie Orientierung und machen einen Menschen effizient (Grunwald & Thiersch, 2010, S. 104). Diese Routinen und Pragmatismen wiederum beruhen auf Deutungen und Handlungsmustern, die ein Mensch verinnerlicht hat (Füssenhäuser, 2005, S. 152).
    Die beschreibende Perspektive der Phänomenologie respektiert und erkennt diese Bewältigungsversuche, die durch Routine und Pragmatismus entstanden sind, als jene an, die im gegenwärtigen Alltag für die Einzelnen möglich sind (Thiersch et al., 2012, S. 184).
  2. Die alltägliche Lebenswelt, also die erfahrene Wirklichkeit, kann in verschiedene soziale Felder, beispielsweise Familie, Arbeit oder Freizeit, gegliedert werden. Diese verschiedenen Felder erfüllen im Alltag unterschiedliche Funktionen. Auch nimmt der Mensch in ihnen jeweils unterschiedliche Rollen ein. Die Funktionen und Inhalte der unterschiedlichen Lebensfelder können einander ergänzen oder aber in Konflikt miteinander geraten. Im Laufe des Lebens bewegt man sich durch unterschiedliche Lebensfelder, sammelt in ihnen Erfahrungen und entwickelt Bewältigungsmuster. Daraus bildet sich der eigene Lebensentwurf und die eigene Biografie (Grunwald & Thiersch, 2018a, S. 306; Thiersch et al., 2012, S. 184–185).
  3. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist immer auch normativ-kritisch. Wie bereits ausgeführt, handelt der Mensch aufgrund pragmatischen Alltagswissens und Routinen, um sein Leben zu bewältigen. Routinen und Pragmatismus, bestehende Deutungen und Handlungsmuster können aber auch dazu führen, dass man im Gegebenen und in eben diesen Routinen verharrt, ohne sich bewusst zu werden, dass man unzufrieden ist, weil man sich in einer engen und starren Situation befindet (Thiersch et al., 2012, S. 183). „Alltag […] ist gekennzeichnet durch die entlastende Funktion von Routinen, die Sicherheit und Produktivität im Handeln einerseits erst ermöglichen, andererseits Enge, Unbeweglichkeit und Borniertheit erzeugen und menschliches Leben in seiner Entwicklung und seinen Möglichkeiten einschränken und behindern“ (Thiersch et al., 2012, S. 183). Diese Routinen können den Alltag erschweren, dabei jedoch nicht sofort erkennbar sein, da der Alltag als gegeben und festgelegt erscheint. Dieser Umstand kann als Pseudokonkretheit beschrieben werden. Der normativ-kritische Zugang will im Sinne einer Aufklärung diese Pseudokonkretheiten aufdecken und zerstören (S. 185).
  4. Der vierte Zugang eröffnet einen historischen und sozialen Raum. Thiersch geht davon aus, dass die eigene Wirklichkeit immer auch von den gesellschaftlichen Strukturen und Gegebenheiten bestimmt und geprägt ist, beispielsweise von der Arbeitsmarktlage oder von gesellschaftlichen Bedeutungszuschreibungen. Die Gesellschaft schreibt sich mit ihren objektiven Strukturen in die eigene Lebenswelt und damit in die subjektiven Handlungsmuster ein (Thiersch et al., 2012, S. 185; Grunwald & Thiersch, 2004, S. 18–19). Dies hat zur Folge, dass sich gesellschaftliche Gegebenheiten auf die persönliche Lebensgestaltung auswirken. So kann beispielsweise die Wirtschaftskonjunktur zum Stellenverlust führen. Dementsprechend wird die Lebenswelt als Ort der Bewältigung und Erfahrung (anhand dieses Beispiels unter anderem der Arbeitslosigkeit) gesehen, der aus dem Zusammenwirken subjektiver Handlungsmuster und objektiver Strukturen entsteht.
  5. Der letzte Zugang zeigt die Herausforderungen, die durch neue soziale Ungleichheiten entstehen. Thiersch beschreibt die Gegenwart als zweite Moderne, in der die Lebenswelt brüchig und prekär geworden ist (Thiersch, 2016, S. 22). Lebensläufe sind heute nicht mehr vorhersehbar. Sie müssen aktiv hergestellt werden und ständig muss sich der Mensch zwischen verschiedenen Optionen entscheiden (S. 29). Diese Dynamik kann als befreiend und inspirierend erlebt werden, gleichzeitig kann sie aber auch überfordern oder blockieren. Zugleich betonen Thiersch et al., dass Ressourcen ungleich verteilt sind und sich die Schere zwischen Arm und Reich vergrössert. Aufgrund der Individualisierung werden soziale Probleme jedoch nicht mehr als gesellschaftliche Probleme betrachtet, sondern ebenso individualisiert. Jeder gilt als seines eigenen Glückes Schmied (2012, S. 185).
     
    Die Rekonstruktion einer Lebenswelt macht sichtbar, nach welchen Rollenmustern, Routinen und Handlungsmustern jemand lebt. Dies, wie auch die Betrachtung erlebter Zeit, erlebten Raums und erlebter sozialer Beziehungen, ermöglicht es, Unstimmigkeiten und Brüche sowie belastende Strukturen, aber auch Handlungsoptionen im Alltag der Adressatinnen und Adressaten zu sehen. Zudem zeigt die Rekonstruktion der Lebenswelt auf, wo und wie gesellschaftliche, politische und kulturelle Bedingungen und Gegebenheiten die Lebenswelt eines Menschen beeinflussen. Der Alltag kann so als Vorderbühne gesehen werden, auf der ein Mensch agiert und lebt. Wie und weshalb jemand so handelt, wie er oder sie es tut, ist jedoch von der Hinterbühne geprägt, die die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Gegebenheiten einer Lebenswelt umfasst.

 

Theorieentwicklung und Biografie von Hans Thiersch

Zentraler Exponent der Theorie der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit ist Hans Thiersch. Er entwickelte in den 1960er- und 1970er-Jahren das Konzept der Lebensweltorientierung. Der Text Alltagshandeln und Sozialpädagogik, den Hans Thiersch 1978 in der Zeitschrift Neue Praxis veröffentlicht hat, wird als „Beginn eines neuen sozialpädagogischen Diskurses“ (Engelke, Borrmann & Spatscheck, 2009, S. 431) gesehen. Es steht für die „Alltagswende“ (Lambers, 2016, S. 98) in der Sozialen Arbeit. Soziale Arbeit fokussierte zuvor auf das ‚Passendmachen von Menschen‘, die in der Gesellschaft durch delinquentes oder schwieriges Verhalten auffielen. Um das ‚Passendmachen‘ umsetzen zu können, wurden Techniken eingesetzt, deren disziplinierende und stigmatisierende Wirkung unter dem Deckmantel der Barmherzigkeit und Menschenliebe verschleiert wurde (Grunwald & Thiersch, 2016, S. 25). Darüber hinaus ist Thierschs Theorie von seinen Erfahrungen der Sozialen Arbeit in der Zeit des Nationalsozialismus geprägt. Aufgrund der unkritischen Übernahme der damals geltenden Rassenpolitik zieht Thiersch weitreichende Schlüsse über das bisherige Verhältnis Sozialer Arbeit und Gesellschaft: „Die herrschende Moral ist die Moral der Herrschenden – die pädagogische Moral ist die Moral der herrschenden Normalität“ (Thiersch, 1995a, S. 14). Er betrachtet die Soziale Arbeit dementsprechend als ausgesprochen anfällig für die Ideologien der herrschenden Gruppen und versteht sein Konzept als Gegenentwurf. Folglich orientiert sich sein eigener Theorieentwurf an den Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit (Füssenhäuser, 2005, S. 139).

Dem Konzept der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit gelang es, sich politisch wie auch in Gesetzen zu etablieren. So orientierte sich beispielsweise der 8. Jugendbericht in Deutschland an den Handlungs- und Strukturmaximen der Lebensweltorientierung (BMJFFG, 1990). Auch in das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) fanden Elemente der Lebensweltorientierung dauerhaft Zugang (Füssenhäuser, 2005, S.144).

Thiersch hat im Laufe der Zeit seine Ausführungen zur lebensweltorientierten Sozialen Arbeit stetig weiter ausformuliert und präzisiert. Auf seiner Website kann man sich einen Überblick über Bücher, Aufsätze, Interviews und auch Vorträge verschaffen (www.hans-thiersch.de). Thiersch besitzt auch einen eigenen YouTube-Kanal, auf dem Videos seiner Vorträge einsehbar sind. Ebenso erwähnenswert sind die frei zugänglichen Videos seiner Vorlesungen zur Einführung in die Theorie lebensweltlicher Sozialer Arbeit im Sommersemester 2012 an der Universität in Tübingen (http://timms.uni-tuebingen.de).


 


Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien

Das Konzept der Lebensweltorientierung kann dazu verführen, „anzunehmen, hier würden nur die Selbstverständlichkeiten des Alltagswissens wiederholt“ (Thiersch et al., 2012, S. 182). Die folgenden wissenschaftstheoretischen Traditionslinien sowie aktuellen Gesellschaftstheorien sind zentral, um die Theorie der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit verstehen zu können:
a) die hermeneutisch-pragmatische Tradition,
b) das phänomenologisch-interaktionistische Paradigma,
c) die kritische Alltagstheorie und
d) aktuellere Gesellschaftstheorien.

Hermeneutisch-pragmatische Tradition

Die Hermeneutik zielt darauf ab, Gegebenheiten in ihrem Sinn, in ihrer Bedeutung zu verstehen. Es wird entsprechend die Gegebenheit an und für sich untersucht und nicht nach Ursachen oder Gründen geforscht. Der Sinn des Gegebenen – also des zu Verstehenden – wird aus dem zu Verstehenden herausgeholt. Der Sinn wird nicht in das zu Verstehende hineingetragen (Lambers, 2016, S. 255).

Thiersch geht davon aus, „dass jegliche Theoriebildung von der konkreten Praxis auszugehen hat“ (Füssenhäuser, 2005, S. 179). Im Fokus steht das Verstehen des individuellen Alltags sowie der jeweils subjektiv erlebten und interpretierten Wirklichkeit der Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit. Es wird gefragt: Wie wird Alltag durch die Adressatin, den Adressat gestaltet? Dieses Alltags- und Praxiswissen wird mit dieser Frage rekonstruiert und führt in Verbindung mit theoretischen Erkenntnissen zu einem höheren Verstehen des Alltags der Adressatinnen und Adressaten. Das Hinzuziehen theoretischen Wissens ist möglich, da man als Sozialarbeitende oder Sozialarbeitender nicht unter dem alltäglichen Handlungsdruck steht, sondern von aussen eine Situation beobachten kann. Dies wiederum ermöglicht es, mit einer kritischen Distanz den Alltag der Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit zu betrachten. Die kritische Distanz wiederum öffnet den Blick für mögliche alternative Aufgabenbewältigung (Thiersch et al., 2012, S. 182; Füssenhäuser, 2005, S. 180). „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit steht zunächst in der hermeneutisch-pragmatischen Traditionslinie der Erziehungswissenschaft, wie sie insbesondere von Wilhelm Dilthey (1954), Herman Nohl (1949; 1988) und Erich Weniger (1952) begründet und durch Heinrich Roth (1967) und Klaus Mollenhauer (1977) zur sozialwissenschaftlichen und kritischen Pädagogik weiterentwickelt wurde“ (Thiersch et al., 2012, S. 182).

 

Phänomenologisch-interaktionistisches Paradigma

Die Phänomenologie geht von der Annahme aus, „dass hinter den sinnlich erfahrbaren Dingen und Erscheinungen eine gegebene Seinsordnung steht“ (Lambers, 2016, S. 256). Das Ziel der Phänomenologie ist es, das verborgene Wesen hinter der wahrgenommenen Erscheinung zu erkennen. In der Phänomenologie erhält der von Edmund Husserl geprägte Begriǯf der Lebenswelt grosse Bedeutung. Er wird von Alfred Schütz und Thomas Luckmann aufgegriǯfen und mit dem Betriǯf des Alltags verknüpȼt. Schütz und auch Luckmann gehen davon aus, dass der Alltag aus Dingen und Erscheinungen besteht, die immer bereits vorinterpretiert wurden. Aus diesen Vorinterpretationen lassen sich Deutungsmuster und Sinnzusammenhänge ableiten. Diese Deutungsmuster und Sinnzusammenhänge ermöglichen einem Menschen, im Alltag zu agieren (S. 258). Schütz und Luckmann führen aus, dass Alltag immer in Raum, Zeit und Beziehungen gegliedert ist (1975/2003, S. 153–154).

Der Symbolische Interaktionismus wurde von Vertretern der Chicagoer Schule entwickelt. Sie gehen davon aus, dass sich Austausch- und Anpassungsprozesse bei der Interaktion von Mensch und Umwelt herausbilden, die Bedeutung generieren. Dementsprechend schreiben Menschen Dingen Bedeutungen zu, die sich aus sozialen Interaktionen ergeben. Menschen handeln gegenüber diesen Dingen dann entsprechend dieser Bedeutungen (Lambers, 2016, S. 269–270).

Es wird gefragt, wie Alltag erlebt wird und welche Gesetzmässigkeiten in der Lebenswelt Gültigkeit haben. Mit Rückgriff auf die Phänomenologie kann Alltag analysiert werden, indem man die erlebte Zeit, den erlebten Raum und die erlebten Beziehungen betrachtet. Aus dem Handeln im Alltag, in der Alltäglichkeit, werden Routinen und Pragmatismen sichtbar (Füssenhäuser, 2005, S. 166; Thiersch et al., 2012, S. 183). In Anlehnung an die interaktionistische Theorie von Goffman begründet Thiersch sein Verständnis der Bewältigungsmuster eines Menschen. Die sich aus Handlungen und Deutungsmustern ergebenden Bewältigungsstrategien bzw. Routinen werden nicht in Kategorien wie sinnvoll oder nicht sinnvoll eingeteilt, sondern als Bewältigungsstrategien im jeweiligen Alltag anerkannt und respektiert (Füssenhäuser, 2005, S. 166; 168).

 

Kritische Alltagstheorie

Die Kritische Theorie geht davon aus, dass wirklicher Erkenntnisgewinn nur über Verständigung stattfinden kann. Sie legt dabei den Fokus nicht auf Erklärungen, sondern auf Verständnis (Füssenhäuser, 2005, S. 265). Entsprechend erkennt die Kritische Theorie „nicht das Erklären mittels hypothesengeleiteter Empirie, sondern Verstehen mittels Hermeneutik und Phänomenologie“ (S. 265) als richtigen und einzigen Weg zur Erkenntnisgewinnung an. Bekannteste Vertreter der Kritischen Theorie sind Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas. Thiersch stützt sich in seinen Ausführungen auf Karel Kosík: Dieser geht davon aus, dass Menschen in ihrer Wirklichkeit wegen ihrer unmittelbaren Betroffenheit die Zusammenhänge nicht sehen, die den Alltag beeinflussen (1967, S. 9). Entsprechend sieht die Kritische Theorie ihre Aufgabe darin, Menschen hinsichtlich dieser Zusammenhänge aufzuklären und sie zu emanzipieren (Füssenhäuser, 2005, S. 170).

Mit der Phänomenologie kann die alltägliche Lebenswelt beschrieben werden. Thiersch will sie jedoch auch kritisch beleuchten und dekonstruieren. Deshalb stützt er sich zusätzlich auf eine kritische Alltagstheorie (Füssenhäuser, 2005, S. 169). Gerade Alltagswissen und Routinehandeln entlastet den Menschen bei der Aufgabe, sein Leben zu bewältigen. Nicht jede Handlung muss täglich aktiv gedacht oder geplant werden. Man muss sich nicht immer wieder neu für oder gegen sie entscheiden. Routinen führen zu Sicherheit im Alltag und zu Effizienz (Thiersch et al., 2012, S. 183). Sie können jedoch auch den Alltag erschweren und Veränderungsmöglichkeiten verdecken. An diesem Punkt setzt die Kritische Alltagstheorie an, die diese Doppeldeutigkeit – von Kosík auch Pseudokonkretheit oder „Dämmerlicht von Wahrheit und Täuschung“ (1967, S. 9) genannt – aufdecken und im Sinne einer Aufklärung unentdeckte, verborgene Möglichkeiten aufzeigen will. Mithilfe einer respektvollen Dekonstruktion soll eine glücklichere oder gelingendere Lebensbewältigung erreicht werden (Thiersch et al., 2012, S. 183).

 

Gegenwärtige Gesellschaftstheorien

Thiersch nimmt in der Weiterentwicklung des Konzepts der Lebensweltorientierung Modernisierungs- und gesellschaftstheoretische Rekurse auf. Prägend sind dabei die Arbeiten von Jürgen Habermas, Ulrich Beck und Lothar Böhnisch (Thiersch et al., 2012, S. 184).

„Lebenswelt – als Ort des Arrangements in der Erfahrung – ist die Schnittstelle von Objektivem und Subjektivem, von Strukturen und Handlungsmustern. Die Lebenswelt kann – bildlich geredet – gesehen werden als Bühne, auf der Menschen in einem Stück, in Rollen und Bühnenbildern – nach den bühnenspezifischen Regeln – miteinander agieren; die Lebenswelt ist gleichsam der Ort eines Stegreifspiels in gegebenen Mustern.“ (Thiersch et al., 2012, S. 185) Der Alltag der Menschen und folglich auch die Lebensbewältigung findet nach Böhnisch in der bereits vorgegebenen Lebenslage statt: Diese Lebenslage ist immer schon durch die Gesellschaft und ihre Strukturen vorgeprägt. Grunwald und Thiersch formulieren diesen Sachverhalt folgendermassen: „Alltägliche Lebenswelt ist eine Bühne, auf der der Mensch im Medium des Besorgens gesellschaftliche, politische und strukturelle Vorgaben lebt; die Vorderbühne der Lebenswelt ist geprägt durch die Hinterbühne der gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen“ (2010, S. 104). Die Lebenswelt wird entsprechend als Ort der Bewältigung und Erfahrung gesehen, die aber immer durch objektive, gesellschaftliche Strukturen sowie durch subjektive, individuelle Bedürfnisse und Handlungsmuster beeinflusst wird. Diese Lebenswelt stellt entsprechend den Bereich dar, der darüber Aufschluss gibt, welche Möglichkeiten in einem ausgewählten Leben erreichbar sind (Grunwald & Thiersch, 2004, S. 18–19). Thiersch nimmt die von Beck (1986) formulierten gesellschaftlichen Veränderungen hin zur Individualisierung auf und schliesst daraus, dass aufgrund der zunehmenden Pluralisierung und Aufweichung standardisierter Lebensläufe „für die Soziale Arbeit die Aufgabe der Lebensbewältigung zunehmend in den Mittelpunkt tritt“ (Füssenhäuser, 2005, S. 177).

 


 

Struktur- und Handlungsmaxime als Kern der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit

 

Die Struktur- und Handlungsmaxime werden als Kern des Konzepts und als Grundhaltung der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit verstanden (Grunwald & Thiersch, 2018a, S. 308; Füssenhäuser, 2005, S. 202). Diese Maximen wurden von Thiersch im Verlaufe der Theorieentwicklung immer wieder verändert oder weiter ausformuliert (Füssenhäuser, 2005, S. 202). Gegenwärtig erachtet er folgende sieben Struktur- und Handlungsmaximen als zentral für die Ausgestaltung einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit: Prävention, Regionalisierung/Sozialräumlichkeit, Alltagsnähe, Partizipation, Integration/Inklusion, Einmischung und strukturierte Offenheit (Grunwald & Thiersch, 2018a, S. 308).

 

Strukturmaximen können als Grundsätze verstanden werden, die in der institutionellen Ausgestaltung und Arbeitsorganisation der Sozialen Arbeit beachtet werden sollen. Unter Handlungsmaximen fallen Leitideen, die von Sozialarbeitenden im Rahmen ihrer Arbeit mit Adressatinnen und Adressaten, also im professionellen Handeln, gewahrt werden müssen (S. 308).

 

 


Ziele der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit

Ein Grundmuster professionellen Handelns

Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass lebensweltorientierte Soziale Arbeit keine spezifischen Methoden oder gar Techniken für Tätige in der Sozialen Arbeit formuliert. Vielmehr sind in ihr „lediglich die Rahmenstrukturen und Grundmuster des professionellen Handelns angelegt“ (Füssenhäuser, 2005, S. 213). Lebensweltorientierte Soziale Arbeit muss entsprechend immer in Bezug auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen und sozialpolitischen Strukturen sowie in konkreten Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit gedacht werden (Thiersch, 1993, S. 11–12). Eine solche Soziale Arbeit orientiert sich nicht an einer Methode oder einer Technik, vielmehr zielt sie darauf ab, Adressatinnen und Adressaten in ihrem jeweiligen Alltag in den Mittelpunkt zu stellen und Methoden und Techniken zu wählen, die zu dieser konkreten Ausgangslage passen (Pantucek, 1998, S. 87).

Hilfe zur Selbsthilfe und ein gelingenderer Alltag

Das oberste Zielensweltorientierter Sozialer Arbeit ist die Hilfe zur Selbsthilfe hin zu einem gelingenderen Alltag (Thiersch, 1986, S. 42). Mit dem Verweis auf den gelingenderen Alltag fokussiert Thiersch zwei Perspektiven. Einerseits soll damit aufgezeigt werden, dass Möglichkeiten und Optionen in einem Alltag begrenzt sein können. Andererseits wird kein Idealzustand im Sinne eines gelungenen Alltages, sondern eine Verbesserung des gegenwärtigen Zustandes im Sinne einer Orientierung an einem gelingenderen Alltag angestrebt (S. 37).

Hilfe zur Selbsthilfe zielt dabei darauf ab, Interventionen so auszugestalten, dass Adressatinnen und Adressaten „sich dennoch als Subjekte ihrer Verhältnisse erfahren können“ (Thiersch et al., 2012, S. 187). Tätige in der Sozialen Arbeit handeln so, dass sie die Adressatinnen und Adressaten ermächtigen und befähigen, Veränderungen eigenständig anzugehen (Thiersch, 2002, 208–209). Von grosser Relevanz ist dabei die Transparenz gegenüber den Adressatinnen und Adressaten, denn Soziale Arbeit ist zeitweise noch immer damit beschäftigt, Wissen über Adressatinnen und Adressaten zu sammeln, anstatt Wissen für Adressatinnen und Adressaten (Pantucek, 1998, S. 93).

Respekt und Destruktion, Verhandlung und Arbeitsbündnis sowie Nähe und Distanz

Hilfe zur Selbsthilfe im Hinblick auf einen gelingenderen Alltag impliziert das Zusammenspiel von Respekt und Destruktion: Respekt wird den bisherigen Bewältigungsversuchen der Adressatinnen und Adressaten entgegengebracht. Sie werden als jene Handlungsweisen akzeptiert und wertgeschätzt, mit denen Adressatinnen und Adressaten den bisherigen Bewältigungsaufgaben ihres Alltags begegnet sind. Waren die Bewältigungsversuche unzulänglich, unglücklich oder sogar schädlich, so müssen sie doch als Versuche anerkannt werden, die Herausforderungen des Alltags mit eben diesen Strategien zu bewältigen (Thiersch, 2016, S. 39).

Destruktion zielt auf das Sichtbarmachen neuer Optionen und auf die Möglichkeit, anders zu handeln. Soziale Arbeit destruiert Bewältigungsstrategien, die nicht erfolgreich sind, indem sie auf Einengendes, Blockierendes– Pseudokonkretes – hinweist und so die Möglichkeit der Veränderung aufzeigt (Thiersch, 2002, S. 208–209). Zentral wird daher das Aushandeln. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit versteht ihre Interventionen immer im Modus des Aushandelns. Adressatinnen und Adressaten müssen in die Planung und Ausgestaltung von Interventionen einbezogen werden, sodass eine gemeinsameVerhandlung und ein gemeinsamesVerständnis hin zu einem gelingenderen Alltag stattfinden kann (Thiersch et al., 2012, S. 191). Um in eine gemeinsame Verhandlung eintreten zu können und um gegenseitiges Vertrauen entstehen zu lassen, ist die Ausbildung eines tragfähigen Arbeitsbündnisses zentral. Es beinhaltet auch immer ein bestimmtes Verhältnis zwischen Nähe und Distanz (Thiersch, 1993, S. 25; Müller, 1991, S. 106). Lebensweltorientierte Arbeit geht mit grosser Nähe zu Adressatinnen und Adressaten einher. Ohne diese Nähe kann der jeweilige Alltag, die jeweilige Lebenswelt nicht verstanden werden. Gleichzeitig müssen Tätige in der Sozialen Arbeit Distanz zur Lebenswelt der Adressatinnen und Adressaten einnehmen, um Unzulängliches, nicht Gelingendes wahrnehmen und so auf diese Pseudokonkretheiten hinweisen zu können (Grunwald & Thiersch, 2010, S. 107; Thiersch et al., 2012, S. 185).

Kritische Reflexivität Sozialer Arbeit

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass lebensweltorientierte Soziale Arbeit immer mit Reflexion und Selbstreflexion einhergehen muss. Das eigene professionelle Handeln soll durch die Sozialarbeitenden für sich selbst, aber auch gemeinsam mit Adressatinnen und Adressaten, dem Team oder in einer Supervision kritisch überprüft werden (Thiersch, 1993, S. 25; Grunwald & Thiersch, 2018a, S. 314). Daneben muss sich Soziale Arbeit immer „ihrer eigenen Gefährlichkeit bewusst sein“ (Thiersch, 1992, S. 39) und in diesem Bewusstsein auch handeln. Sie muss sich entsprechend die Frage stellen, ob beispielsweise Interventionen oder auch Institutionen wirklich notwendig und angemessen sind (S. 39). Ebenso muss sie ihre eigene Eingebundenheit in sozialpolitische Strukturen sowie ihre Mitwirkung an der Definition der Normalität, in die hinein beispielsweise integriert werden soll, kritisch reflektieren (Grunwald & Thiersch, 2018a, S. 314; Thiersch, 2014, S. 331–332).


Theorie-Praxis-Bezug

Soziale Arbeit steht für Thiersch für eine Handlungswissenschaft. Für ihn sind „Theorie und Praxis im Interesse an einer gleichen ‚Sache‘ miteinander verbunden (. . .) und (. . .) spiegeln, ergänzen, provozieren und kritisieren“ (Grunwald & Thiersch, 2011, S. 860) sich gegenseitig. Dennoch folgen Theorie und Praxis jeweils ihrer eigenen Logik, die wiederum in einem hermeneutischen Bezug zueinander stehen. Die Praxis bietet der Theorie den Blick auf den Alltag der Adressatinnen und Adressaten sowie auf ihre Bewältigungsaufgaben. Die Theorie wiederum ermöglicht eine kritische Distanz, da sie nicht unter unmittelbarem Handlungsdruck steht, und hat entsprechend die Möglichkeit, das Handeln der Praxis zu analysieren und so weitere Orientierungsmöglichkeiten zu schaffen (Thiersch, 2002, S. 188; Füssenhäuser & Thiersch, 2001, S. 1877).


Bezüge zwischen Theorie und Forschung

In Bezug auf Lebensweltorientierung sind vielfache Forschungsarbeiten durchgeführt worden, die zur Verdichtung und Verdeutlichung, aber auch zur Kritik der Theorie geführt haben (Grunwald & Thiersch, 2010, S. 108). Der Fokus der empirischen Forschungsarbeiten liegt oftmals auf den Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit. Das Hauptaugenmerk wird auf deren Erlebnisse mit Strukturen und Mitarbeitenden der Sozialen Arbeit gelegt. Weiter werden beispielsweise Institutionen selbst auf ihre Lebensweltorientierung untersucht. Die Ergebnisse solcher Forschungsarbeiten fliessen dann wieder in die Entwicklung neuer oder bestehender Angebote Sozialer Arbeit ein (S. 109–111). Thiersch selbst kann als eine treibende Kraft bezüglich Forschungstätigkeit im Bereich lebensweltorientierter Sozialer Arbeit gesehen werden (Füssenhäuser, 2005, S. 137).


Ethische Bezüge

Lebensweltorientierte Soziale Arbeit richtet sich an sozialer Gerechtigkeit aus. Dabei können, so Thiersch, Antworten auf die Frage der geltenden sozialen Gerechtigkeit nur gefunden werden, wenn sowohl die individuelle Ebene als auch gesellschaftliche und politische Strukturen in den Fokus genommen werden (Thiersch, 1997, S. 18–19). Soziale Gerechtigkeit aus Sicht der Lebensweltorientierung bedeutet immer Folgendes: Alle Menschen streben nach Partizipation und Ressourcen. Zudem wollen sie ein Leben als Subjekt der eigenen Wirklichkeit führen. Darauf haben sie einen Anspruch (Thiersch, 2003, S. 82). Thiersch sieht diese Gerechtigkeit in der gegenwärtigen Zeit gefährdet, da sich der gleiche Anspruch nicht am Menschsein orientiert, sondern an den Leistungen, die ein Mensch erbringt. In diesem Sinne muss kritisch gefragt werden, ob denn die Leistungserbringung in unserer Gesellschaft als zentrale Aufgabe betrachtet werden oder worauf die lebensweltorientierte Soziale Arbeit abzielen soll (Thiersch, 2016, S. 23).

Neben der neueren und konkreten Frage nach sozialer Gerechtigkeit hat sich Thiersch bereits in früheren Jahren mit der Frage der geltenden Moral in der Gesellschaft und insbesondere in der Sozialen Arbeit beschäftigt. Seine zentrale Frage lautete: „Was sind sich Einzelne, was sind Gruppen sich gegeneinander in der Gesellschaft schuldig, was schuldet ihnen die Gesellschaft?“ (Thiersch, 1995b, S. 25). 1992 äusserte er sich zudem zur Gefahr der Kontrolle einer Sozialen Arbeit und formulierte bezüglich der Beratung von Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit wesentliche Aspekte. Er erachtet es als erforderlich, „die Rechte von Adressaten in Bezug auf Mitwirkung zu sichern […] und, vor allem, soziale Beratung auf eine Berufsethik festzulegen, […] die die selbstkritische Prüfung des Handelns institutionalisiert als kritische Selbstreflexivität“ (Thiersch, 1992, S. 140).


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Zitiervorschlag:

Marti, Barbara. (2021). Lebensweltorientierte Soziale Arbeit, Soziale Arbeit (Hrsg.), Theorielinien. https://virtuelleakademie.ch/good-practice-beispiele/theorielinien/lebensweltorientierte-soziale-arbeit/

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